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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0141

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aber nur in einem öden „Weiter so", ohne Sinn und Bestim-
mung; ein Entfliehen in den lebendigen Kosmos, einer Sonne
entgegen, die voll ungebändigten Lebens ist und auf uns zu-
rückblickt, kraftspendend oder vernichtend, doch immer wun-
derschön, wenn sie vorüberzieht. Wer behauptet da, die Sonne
könne nicht zu mir sprechen! Die Sonne besitzt ein großes,
loderndes Bewußtsein, und ich besitze ein kleines loderndes
Bewußtsein. Wenn es mir gelingt, mich von all dem Unrat aus
Gefühlen und Gedanken zu befreien und zu meinem nackten
Sonnen-Selbst zu gelangen, dann treten die Sonne und ich für
einige Stunden in Beziehung zueinander, ein glühender Aus-
tausch, und sie schenkt mir Leben, Sonnen-Leben, und ich
schicke ein wenig neuen Glanz aus der Welt des leuchtenden
Blutes. Gleich einem wütenden Drachen haßt die Sonne unser
nervöses und nur auf die eigene Person ausgerichtetes Emp-
finden. Das müssen all die heutigen Sonnenbadenden am eige-
nen Leib erfahren, denn die Sonne, die sie bräunt, zersetzt sie.
Aber gleich einem Löwen liebt die Sonne den hellen roten Saft
des Lebens, und sie kann ihn unendlich reicher machen, wenn
wir nur wissen, wie wir ihre Gaben empfangen. Aber wir wis-
sen es nicht. Wir haben die Sonne verloren. Und sie stürzt auf
uns herab und vernichtet uns, indem sie irgend etwas in uns
zersetzt: nicht Lebensspender ist sie, sondern Drachen der
Zerstörung. Und wir haben den Mond verloren, den kühlen,
hellen stetig sich verändernden Mond. Er könnte unsere Ner-
ven beruhigen, sie besänftigen mit der zarten Hand seine
Scheins, sie wieder in Gelassenheit wiegen durch sein kühles
Dasein. Denn der Mond ist die Herrin und Mutter unserer
wäßrigen Körper, der bleiche Leib, der unser rastloses Be-
wußtsein und unser feuchtes Fleisch umhüllt. Ach, der Mond
könnte uns besänftigen und heilen wie die große kühle Arte-
mis, wenn sie uns in ihre Arme nimmt. Aber wir haben ihn
verloren, in unserer Dummheit beachten wir ihn nicht, und
wütend blickt er auf uns nieder und bedenkt uns mit unsteten
Schlägen. Ach, hüte dich vor der zornigen Artemis an nächtli-
chen Himmeln, hüte dich vor dem Haß der Kybele, hüte dich
vor der Rachsucht der gehörnten Astarte!

Denn die Liebenden, die sich nachts erschießen, in diesem
schrecklichen Selbstmord aus Liebe, werden von den Giftpfei-
 
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