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Harth, Dietrich [Editor]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0171

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annihilationis, die reductio ad nihil - und zwar eben als Macht,
die in unserer eigenen Hand liegt. Die prometheisch seit lan-
gem ersehnte Omnipotenz ist, wenn auch anders als erhofft,
wirklich unsere geworden. Da wir die Macht besitzen, einan-
der das Ende zu bereiten, sind wir die Herren der Apokalypse.
Das Unendliche sind wir. -

Das sagt sich leicht. Ist aber so ungeheuerlich, daß alle
Wechselfälle der bisherigen Geschichte daneben beiläufig zu
werden, und die bisherigen Epochen zur bloßen „Vorge-
schichte" zusammenzuschrumpfen scheinen: denn wir sind
nun nicht einfach nur Vertreter einer neuen geschichtlichen
Generation von Menschen, sondern, obwohl anatomisch na-
türlich unverändert, durch unsere völlig veränderte Stellung im
Kosmos und zu uns selbst, Wesen einer neuen Spezies; Wesen,
die sich vom bisherigen Typus „Mensch" nicht weniger unter-
scheiden, als sich etwa, in Nietzsches Augen, der Übermensch
vom Menschen unterschieden hätte. Positiv ausgedrückt - und
das gilt unmetaphorisch: Wir sind Titanen. Mindestens für die
mehr oder minder kurze Frist, in der wir omnipotent sind,
ohne von dieser unserer Omnipotenz endgültig Gebrauch ge-
macht zu haben.

Wirklich ist in der kurzen Zeit unserer Herrschaft die Kluft
zwischen uns Titanen und unseren Vätern, den Menschen von
gestern, so breit geworden, daß diese uns bereits fremd zu
werden beginnen. Kronbeispiel ist die Figur, in der die letzten
Generationen unserer Vorfahren ihr „Wesen" erkannten: Faust,
der verzweifelt Titan zu sein begehrte. Es mag wie ein Sakrileg
gegen Goethe und gegen sein (ohnehin sakrilegisch zum Stolz-
objekt und Kulturgut-Beispiel erniedrigtes) Werk klingen, aber
gegen Goethe besagt es wirklich nicht das Mindeste, wenn ich
den Verdacht ausspreche, daß die Figur Faust heute schon bei-
nahe unnachvollziehbar geworden ist. Zu fühlen, was der so-
genannte „faustische Mensch" meinte, wenn er darüber klagte,
„nur endlich" sein zu müssen, das sind wir kaum mehr instan-
de. Die unendliche Sehnsucht nach dem Unendlichen, die fast
ein Jahrtausend lang tiefste Leiden verursacht und höchste
Leistungen befeuert hatte, verliert sich durch das „Unend-
liche", das wir in Händen halten, so rapide, daß wir eigentlich
nur noch von ihr „ wissen ", nur noch wissen, daß es sie gegeben

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