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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0186

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wir bis dahin noch unter den Lebenden weilen sollten. Unfaß-
bare Substanzen in der Milch treiben uns der Psychose in die
Arme, und angesichts des Tempos, mit dem die Weltbevölke-
rung sich vermehrt, werden bald nur noch Stehplätze frei sein
auf unserem Planeten. Dies alles mit der Habana-Zigarre in der
Hand, in wohlgesetzter, logisch einwandfreier Rede. Das Pu-
blikum unterdrückt ein Gähnen, obgleich das Desaster, dem
Professor zufolge, unmittelbar bevorsteht. Allerdings nicht für
heute nachmittag. Heute nachmittag nämlich wird alles genau-
so weitergehen wie bisher, ein wenig schlechter vielleicht als
letzte Woche, aber unmerklich schlechter. Sollte allerdings der
eine oder andere unter uns gerade an diesem Nachmittag ein
wenig deprimiert sein, was ja nicht ausbleiben kann, so wird
ihn vielleicht, ganz egal ob er im Pentagon oder im Untergrund
arbeitet, oder auch Hemden bügelt oder Transformatorenble-
che schweißt, der Gedanke heimsuchen, daß es eigentlich ein-
facher wäre, wenn wir es ein für allemal hinter uns hätten,
wenn die Katastrophe wirklich käme. Aber daran ist nicht zu
denken. Die Endgültigkeit, früher eins der hauptsächlichen
Attribute der Apokalypse und einer der Gründe für ihre An-
ziehungskraft, ist uns nicht beschieden.

Abhanden gekommen ist uns auch ein anderer traditioneller
Aspekt des Weltunterganges. Früher galt es als ausgemacht,
daß er eine Angelegenheit wäre, von der alle miteinander
gleichzeitig und ausnahmslos betroffen sein würden; das nie
eingelöste Verlangen nach Gleichheit und Gerechtigkeit fand
in dieser Vorstellung eine letzte Zuflucht. Aber so, wie er sich
in unsern Köpfen abmalt, ist der Untergang kein Gleichmacher
mehr, im Gegenteil. Er ist von Land zu Land, von Klasse zu
Klasse, von Ort zu Ort verschieden; während er die einen er-
eilt, betrachten die andern ihn auf dem Fernsehschirm. Es wer-
den Bunker gebaut, Gettos eingemauert, Festungen errichtet,
Leibwächter engagiert, im großen wie im kleinen. Dem Land-
haus mit Alarmanlagen und elektrischer Umzäunung entspre-
chen, im internationalen Maßstab, ganze Länder, die sich ein-
igeln, während andere vor die Hunde gehen. Der Alptraum
vom Untergang macht der Ungleichzeitigkeit keine Ende, er
radikalisiert sie nur: seine afrikanischen und indischen Versio-
nen werden von denen, die er nicht erteilt, einschließlich der

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