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Geschichte des Calvinismus
in Genf und Frankreich nennen sollen; denn es leistet mehr
als es verspricht. Die Leser haben dabei unstreitig gewonnen,
und das Buch eignet sich, wie es ist, für ein grösseres Publikum
als der Titel in Anspruch nimmt; dies macht es indessen doch
Befn. zur Pflicht, hie und da anzudeuten, wo es dem Titel nicht
entspricht. Das erste Capitel hat es indessen in der That nur
rnit Genf und mit Calvin zu thun , und die Darstellung des Zu-
standes der Partheien kurz vor Calvins Ankunft hat Befn. beson-
ders Wohlgefallen. Herr Weber beweiset, dafs er besitzt, was
den mehrsten Schriftstellern dieser Gattung fehlt — die erforder-
lichen Eigenschaften eines Lehrers der Geschichte. Er
sagt S. 10— 12 :
In den bewegten Zeiten der letzten dreifsig Jahre lassen sich
in Genf dreierlei Classen von Einwohnern erkennen, die an An-
sichten und Sitten sehr verschieden waren. Erstens die Anhänger
des herzoglichen Hauses, gröfstentheils savoyischen Ursprungs,
die im Gefolge dieser Fürsten nach Savoyen gekommen waren
und sich dort, wahrscheinlich vom Herzog ermuntert, angesiedelt
hatten; zweitens, die patriotische Classe der ächten Bürger, zu
denen die Parthei der Eidgenossen gehörte, und drittens die
niedrige Volksklasse, wie überall, Werkzeug der Schlauen. Die
Ersten, mehrentheils vornehme und reiche Leute, hegten aristo-
kratische und monarchische Grundsätze und waren daher dem
Bürgerthum eben so feind, wie der neuen Lehre, die auf gleiche
Bechte Aller hinarbeitete; sie hatten gröfstentheils freiwillig oder
gezwungen die Stadt verlassen und ihre Stelle nahmen nach und
nach vertriebene Protestanten aus Frankreich ein. Die letzte
Classe, bigott und unwissend, stand gänzlich unter dem Einflüsse
der Mönche, namentlich der Franziskaner, die zwei Klöster in
der Stadt hatten, auch von diesen wurden die Zügellosesten, die
hartnäckig bei der alten Lehre beharrten, verjagt und die Stadt
auf diese Weise sehr entvölkert. Es war daher besonders die
Mittelclasse der Einwohner, auf welche Calvin einzuwirken such-
te, die patriotischen, republikanisch gesinnten Bürger, voll mu-
thigen jugendlichen Sinnes als Folge der neu errungenen Unab-
hängigkeit, aber auch voll jugendlichen Leichtsinns, der ihnen
das schätzbare Gut der Freiheit als in Kohheit und Frechheit
bestehend, vormalte. •— — — — ___ _
Daher fanden Calvin und seine Freunde einen so barten Wider-
stand , als sie nach der Beform der Kirche auf die Beform der
Lebensweise drangen; vorher hatte es sich nur darum gehandelt,
Geschichte des Calvinismus
in Genf und Frankreich nennen sollen; denn es leistet mehr
als es verspricht. Die Leser haben dabei unstreitig gewonnen,
und das Buch eignet sich, wie es ist, für ein grösseres Publikum
als der Titel in Anspruch nimmt; dies macht es indessen doch
Befn. zur Pflicht, hie und da anzudeuten, wo es dem Titel nicht
entspricht. Das erste Capitel hat es indessen in der That nur
rnit Genf und mit Calvin zu thun , und die Darstellung des Zu-
standes der Partheien kurz vor Calvins Ankunft hat Befn. beson-
ders Wohlgefallen. Herr Weber beweiset, dafs er besitzt, was
den mehrsten Schriftstellern dieser Gattung fehlt — die erforder-
lichen Eigenschaften eines Lehrers der Geschichte. Er
sagt S. 10— 12 :
In den bewegten Zeiten der letzten dreifsig Jahre lassen sich
in Genf dreierlei Classen von Einwohnern erkennen, die an An-
sichten und Sitten sehr verschieden waren. Erstens die Anhänger
des herzoglichen Hauses, gröfstentheils savoyischen Ursprungs,
die im Gefolge dieser Fürsten nach Savoyen gekommen waren
und sich dort, wahrscheinlich vom Herzog ermuntert, angesiedelt
hatten; zweitens, die patriotische Classe der ächten Bürger, zu
denen die Parthei der Eidgenossen gehörte, und drittens die
niedrige Volksklasse, wie überall, Werkzeug der Schlauen. Die
Ersten, mehrentheils vornehme und reiche Leute, hegten aristo-
kratische und monarchische Grundsätze und waren daher dem
Bürgerthum eben so feind, wie der neuen Lehre, die auf gleiche
Bechte Aller hinarbeitete; sie hatten gröfstentheils freiwillig oder
gezwungen die Stadt verlassen und ihre Stelle nahmen nach und
nach vertriebene Protestanten aus Frankreich ein. Die letzte
Classe, bigott und unwissend, stand gänzlich unter dem Einflüsse
der Mönche, namentlich der Franziskaner, die zwei Klöster in
der Stadt hatten, auch von diesen wurden die Zügellosesten, die
hartnäckig bei der alten Lehre beharrten, verjagt und die Stadt
auf diese Weise sehr entvölkert. Es war daher besonders die
Mittelclasse der Einwohner, auf welche Calvin einzuwirken such-
te, die patriotischen, republikanisch gesinnten Bürger, voll mu-
thigen jugendlichen Sinnes als Folge der neu errungenen Unab-
hängigkeit, aber auch voll jugendlichen Leichtsinns, der ihnen
das schätzbare Gut der Freiheit als in Kohheit und Frechheit
bestehend, vormalte. •— — — — ___ _
Daher fanden Calvin und seine Freunde einen so barten Wider-
stand , als sie nach der Beform der Kirche auf die Beform der
Lebensweise drangen; vorher hatte es sich nur darum gehandelt,