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674

Rückert: Deutsche Geichichte.

Vernunft? Wer muss aber wieder die Satzungen der Offenbarung in
sich aufnehmen? Es ist dieselbe Vernunft. Sie ist der Offenbarung
gegenüber das prüfende und aufnehmende Organ. Es ist daher ein
wesentliches Bedürfniss des Menschen, auf einer hohem Entwickelung
des Geistes auch im Gebiete der Religion aus dem Gebiete des
blinden Glaubens herauszutreten und die Lehren der Religion mit
seiner Vernunft in Einklang zu bringen. Der Rationalismus geht
hier von demselben Streben gegenüber dem Volke aus, welches die
Philosophie in einzelnen Denkern verfolgt. Das Denken im Glauben
schadet dem Gemüthe nicht; denn erst dann ist das Gemüth von
den Abirrungen der blinden Gefühlsschwärmerei und den oft ent-
setzlichen Verirrungen des Fanatismus frei, wenn das Herz durch
die Leuchte eines mit edlem, religiös sittlichen Streben gepaarten
Verstandes erwärmt wird. Der Rationalismus will durch den Ver-
stand auf die Gefühle des Herzens regelnd und ordnend einwirken,
während alle seine schroffen Gegner im Verstände den Todfeind des
Glaubens und der Religion erblicken. Zu welcher Entwickelung wird
man gelangen, wenn man dem verächtlich gemein genannten so
genannten gesunden Menschenverstände entgegenwirkt? Die deut-
sche Aufklärungsperiode in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts war keine materialistische und frivole, wie die französische,
sie war durchaus ideal und umfasst viele edle Namen unserer
Literatur; sie hält mit festem unerschütterlichem Denk- oder Ver-
standes-Glauben an den drei Ideen einer übersinnlichen Welt, Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit. In ähnlicher Weise und noch schär-
fer und tiefer thaten dieses diejenigen Rationalisten, welche auf
dem Boden der Kantischen Philosophie erwachsen sind. Die tüch-
tigsten und edelsten unter den Theologen der Zeit gehören ihr
an. Ja selbst die nachkantische Philosophie, wenn sie den so ge-
nannten vulgären Rationalismus auch bekämpfte, hat an seine
Stelle den philosophischen gesetzt, der am meisten auf dem
Boden der Hegel’schen Philosophie zur Entwickelung kam, und es
ist auffallend, dass, während der Herr Verf. in vollständig gerechter,
anerkennender Weise die grossen Verdienste des echt deutschen
Mannes J. G. Fichte und Schellings um die Philosophie wür-
digt, er Hegel und die Hegel’sche Philosophie nicht einmal nennt,
welche doch so sehr mit ihrer ganzen Weltanschauung in die Zeit
und die Entwickelung des deutschen Volkes eingegriffen haben. Ge-
wiss hätte unter den religiösen Kämpfen der Neuzeit, die auch die
katholische Kirche nicht unberührt liessen, die deutschkatho-
lische Bewegung eine Erwähnung verdient. Diese Bemerkungen
sollen jedoch den sonstigen Verdiensten des trefflichen, im Sinne und
Geiste deutscher Vaterlandsliebe und vernünftigen Fortschrittes ge-
haltenen, in der ansprechendsten Form geschriebenen und das In-
teressante und Wissenswürdige unserer deutschen Geschichte mit so
vielem Geschicke hervorhebenden Buches keinerlei Abbruch thun.
Sehr wahr ist, was der Herr Verfasser S. 675 von den religiösen
 
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