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Strack, Friedrich [Hrsg.]; Becker-Cantarino, Barbara [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: 200 Jahre Heidelberger Romantik — Berlin, Heidelberg, 51.2007 [erschienen] 2008

DOI Heft:
I: Romantische Erfahrung und poetische Innovation
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Görner, Rüdiger: Poetische Klangreise
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https://doi.org/10.11588/diglit.11459#0101

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Rüdiger Görner

Eine neue Gattung, jene der novellistischen, vielstimmigen Musikkritik der
„Davidsbündler", einer Vereinigung für artistisch gespaltene Ichs.

Bei Jean Paul konnte Schumann lesen, dass Klänge redende Schmerzen sei-
en und dass sich Schmerzen gerne in Tönen verkleiden.3 Und man kann sich
den Komponisten gut im Gespräch mit den diametral verschiedenen, sich aber
ergänzenden Jean Paulschen Zwillingen Vult und Walt vorstellen, verstrickt in
einem Geflecht von unaufhebbaren Gegensätzen. Insbesondere lernte Schu-
mann von Jean Paul eines: Die Kunst des Abschweifens, des freien Phanta-
sierens, aber auch der Selbstunterbrechung des Gedankenstromes zugunsten
einer Nuance, die es nachzuverfolgen galt.

In Jean Pauls Roman Flegeljahre hörte Schumann von der Geburt des
„Masken-Menschen", des Wesens ohne Gesicht, auf die sich freilich jede Phan-
tasie als Larve projezieren ließ.4 Und die Frage ist im Falle Schumanns schon
berechtigt, ob auch Akkorde, Sequenzen, Klangszenen Masken sein können.
Sollte man demnach die Papilloms oder Scenes mignonnes sur quatre notes,
den Carnaval musikalische Maskeraden nennen und nietzschehaft behaupten,
beim frühen Schumann sei nur die Klangmaske wahr gewesen? Eben die Mas-
ke eines Künstlers, der aber bewusster als seine Vorgänger musik-poetische
Kritik als Inspiration verstand - Kunstkritik und Skepsis gegenüber einer Ge-
sellschaft, der er unter Aufbietung aller Phantasie auf eine bislang unerhörte
Weise aufspielen wollte. Mehr noch: Dass Kritik poetisch-künstlerisch werden
solle, dieses Gebot frühromantischer Ästhetik löste Schumann auf dem Gebiet
der Musikkritik ganz und gar ein.

Schumann, soviel kann man sagen, experimentierte auf künstlerische Weise
mit Rollen, welche Spaltungen des Bewusstseins einschlössen. Die quasi schi-
zoide Disposition wurde zum Bestandteil seines Schaffens, Material, wenn man
so will, wobei sie nicht zu artifiziellen Wort- und Tonspaltereien führte, son-
dern zu innermusikalischen Korrespondenzen und literarischen Komplemen-
taritäten, etwa wenn am Ende des Carneval der ,Marsch der Davidsbündler'
emphatisch neu erklingt, über dessen Funktion der Literat Schumann keinen
Zweifel aufkommen läßt: Nennt er ihn doch einen „marche contre les Philis-
tins", was im Zeitalter der Metternich-Restauration und ihrer Seligsprechung
des zum Nachtwächtertum neigenden Spießbürgers ein unbedingter Affront
war.

Im Werk Schumanns empfiehlt sich die Musik als Dialogpartner der Litera-
tur und als Klangbild des Unbewussten. Übrigens hörte Schumann Ähnliches
vor allem in der Musik von Berlioz. Was er über dessen Symphonie fantastique,
über die Ouvertüren Waverley und Les Francs-Juges und deren schiere Inno-
vativität schrieb, belegt, wie tief er die Wahlverwandtschaft mit diesem einst
opiumvergifteten suizidalen Komponisten empfunden haben mußte. Auch er,

3 Ebd., I (Siebenkäs): 564.

4 Vgl. Bacht 2006,67-80.
 
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