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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 1 - Nr. 9 (3. Januar - 31. Januar)
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Samſtag, den 3. Januar 1874.

7. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à Akr. Man abonnirt beim Verleger „ Schiffgaſſe 4,
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Zu ſpät!
Novelle von Clariſſa Lohde.
(Fortſetzung.)

Sie nahm ihm die Hände vom Geſicht und drückte
ihre Wange an die ſeiue.
„Iſt das Deine Liebe, Paul!“
Er ſchlang in wilder Giuth ſeinen Arm um ſie
und preßte fie an das ſtürmiſch pochende Herz:
„Ich liebe Dich!“ rief er, „wie das Kind das Feuer
liebt, das es zu verderben droht. Doch gleichviel, ob
Engel, ob Dämon — ich bin Dein — Dein — allein!
— tauche meine wunde Seele in Ströme der Wonne
und des Entzückens, löſche die Gluth, die in mir brennt,
mit Deiner Liebe — lehre mich vergeſſen — ver-
geſſen!“ —
„Vergeſſen!“ wiederholte ſie und ihre Lippen be-
gegneten den ſeinen in heißem, brennendem Kuſſe.

Achtzehntes Kapitel.

Die Freuden der Erde ſind nur kurz gemeſſen, das
Leid und Weh dagegen heftet ſich an die Verſen der
Menſchen wie eine Kette, deren ſchwere Laſt ſie ihr
Lebenlang mühſam nach ſich ſchleppen müſſen. Wohl
birgt das Leben oft bittre Schmerzen, und Keinen
giebt's, dem die Noth der Erde ganz fremd geblieben
wäre! Aber ſo gewöhnt auch das Menſchenauge iſt,
Jammer und Herzeleid zu ſchauen, es wird nicht un-
gerührt bleiben können, wenn es ſieht, wie ein junges
Menſchenleben, das in ſich Alles trägt, was zum Glücke
berechtigt, ſchon in der erſten Blüthe vom Sturm des
Leidens erbarmungslos geknickt wird.
Solche Rührung erfüllte Jenny's Herz, als ſie am
Morgen nach dem verhängnißvollen Konzertabend in
das einſache Zimmer trat, das Frau Agnes mit Käth-
chen bewohnte. Mutter nnd Tochter ſaßen am Tiſch
mit dem Ordnen von Papieren beſchäſtigt — bei dem

Eintritt Jenny's ſtand Frau Agnes lebhaft auf und

reichte der jungen Dame die Hand.
„Wie lieb, daß Sie kommen“, ſagte ſie, „vielleicht
erſüllen Sie mir eine Bitte und verweilen bei Käth-
chen eine Stunde. Ich möchte das Kind nicht allein
laſſen, und doch treiben mich nöthige Geſchäfte fort.“

„»„Sehr gern erfülle ich Ihnen dieſen Wunſch!“ ent-
gegnete Jenny freundlich, indem ſie Hut und Mantel
ablegte — „es war ſo wie ſo meine Abſicht, Ihnen
den Vormittag zu widmen.“
„So will ich gleich aufbrechen!“ rief Frau Agnes.
— „Nicht wahr, mein Kind“ — wandte ſie ſich an
Käthchen, „es iſt mir lieb, wenn die Sache ſo raſch
als möglich beendet wird? Damit wir bald heimkeh-
ren können.““
Käthchen antwortete mit einem freundlichen: „Ge-
wiß, liebe Mutter!“
Sorglich half ſie der Mutter den Mantel umneh-
men, reichte ihr die Papiere, die auf dem Tiſche be-
reit lagen, und drückte zum Abſchiede, wie ſie immer
zu thun pflegte, einen Kuß auf ihre Lippen.
Jenny hatte ſtill dem ſo ſcheinbar ruhigen Thun
Käthchen's zugeſchaut. Als die Thüre ſich hinter Frau
Agnes geſchloſſen, ergriff ſie Käthchen's Hand und zog
ſie zu ſich auf das Sopha. Jetzt erſt ſchaute ſie dem
Mädchen, das ihrem Blicke faſt ſcheu auswich, voll in's
Geſicht. — Ein tiefer Seufzer rang ſich bei dieſem An-
blick aus Jenny's Bruſt — welche Veränderung war
mit dem rothwangingen Kinde vorgegangen, deſſen
Liebreiz ſie noch geſtern ſo entzückt hatte! Es war, als
wenn den holden Formen der Impuls des Lebens ge-
nommen wäre. Die leuchtenden blauen Augen blick-
ten ſtarr und matt, kein Glanz, kein Schimmer war
mehr in ihnen zu entdecken. Der lieblich ſchwellende
Mund war feſt zuſammengepreßt, als wolle er den
Schmerzensſchrei zurückdrängen, der aus der Bruſt her-
vorquoll — die jugendfriſche Blüthe der Wangen war
wie die Lenzesblume, die der Nachtfroſt trifft — da-
hingewelkt. — Ein ſtilles, kaltes Bild — ſo ſaß ſie
die Augen geſenkt, die Hände im Schooß gefaltet —
ohne Bewegung, ohne Leben. —
„Ihre Mutter hat Geſchäfte hier?“ fragte Jenny,
um die Stille zu unterbrechen. ö
„Sie hat eine Erbſchaft hier zu heben!“ entgegnete
Käthchen, ohne die Augen aufzuſchlagen. Jennh blickte
ſie überraſcht an. „Eine Erbſchaft von Bedeutung?“
Käthchen nickte.
„O, das freut mich!“ rief Jenny herzlich. „So
gehen Sie wenigſtens in dieſer Hinſicht einer freund-
lichen Zukunft entgegen,“ ö
Käthchen hob bei dieſen Worten Jenny's die Lider
in die Höhe und blickte ihr feſt in's Auge. Es lag
eine ſo hoffnungsloſe Verzweiflung, ein ſo unergründli-

cher Schmerz in dieſem Blick, daß Jenny bewegt ibre
 
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