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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 18 - Nr. 25 (4. März - 28. März)
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blatt.

Nr. 25.

Wiberger un

Samſtag, den 28. März 1874.

7. Jahrg.

erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Ginzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4

und bei den Traͤgern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Dunkle Exiſtenzen.
Bilder aus dem Leben der Armen. Von Ernſt von Waldow.

In einer dunkeln und finſteren Vorſtadtſtraße der
ſchönen und glänzenden Reſidenz ſteht ein altes graues
Haus, welches ſich von den übrigen dadurch unterſchei-
det, ⸗daß es noch düſterer, noch ärmlicher und verwahr-
loſter ausſieht. als dieſe. Die Straße iſt noch unge-
pflaſtert und ſelbſt die neuen Häuſer an der einen Ecke
derſelben ſehen in ihrer ſchmuckloſen Unfertigkeit noch
ſchmutziger und unfreundlicher aus, als die halb ver-
fallenen Baracken am andern Ende. Doch iſt Alles
bewohnt — ja in die einzelnen Zimmer iheilten ſich
oft ſogar mehre Familien, da eine einzelne den theuren
„Zins“ nicht erſchwingen könnte. Und dieſer „Zins“
iſt verhältnißmäßig noch klein, denn dafür, daß die
Leute das Haus „trocken wohnen“, kann ihnen ſelbſt
der hartherzigſte Hausherr nicht gar ſo viel Geld ab-
fordern, zahlen ſie ja doch in erſter Linie mit ihrem
Leben, ihrer Geſundheit.

Doch betreten wir die Flur des erwähnten grauen

Hauſes. Vom kleinen finſteren Hofe aus, führt eine
ſchmale Treppe in das erſte Stockwerk und zwar auf
eine hölzerne Altane. Dort trocknen die „Hausleute“
ihre Wäſche und auf dieſe naſſe, ſchlecht gereinigten
Wäſchſtücke hat unſer Liebespaar die Ausſicht; denn
das „Kabinet“ welches es beherbergt, geht mit ſeinem
einzigen ſchmalen Fenſter auf die Altane.
Da ſitzen in dem engen Stübchen die Frau Leni
und ihr Schatz oder „der Herr“ wie ſie ihn nennt.
Bei dem Anblick der alten Leute würde man viel eher
Philemon und Baucis zu ſehen meinen, als eine mo-
derne Julia ſammt Romeo. ö
Und doch lieben ſie ſich, man ſieht dies an den
leuchtenden Blicken der Beiden, die einander ſuchen und
finden, ſieht es an dem glücklichen Lächeln, die ihre
ſchmalen, und gewöhnlich wie von Bitterkeit und Schmerz
verzogenen Lippen umſpielt, als ſie heimlich das letzte
Stückchen Zucker, das er mit ihr theilen gewollt, in
ſeine Taſſe gleiten läßt. Er bemerkt es nicht, denn er
ſchreibt eifrig Noten ab für eine Vorſtadtbühne, denn
er will doch ſo gern auch etwas zur Beſtreitung der
Haushaltungskoſten beitragen, er iſt ja doch ein Mann,
„der natürliche Schützer“, Ernährer des ſchwächeren

Weibes — hier aber iſt ein ganz anderer Fall — lei-
der. Friedrich N. iſt krank, ſchwer krank, denn er lei-

det ſeit ſeinem 25. Jahre an epileptiſchen Krämpfen,

der ſogenannten „fallenden SuchtL. Was er an
Verwandte und Freunde beſaß, hat den allmählich gänz-
lich Verarmten verlaſſen, mit den Reſten ſeiner Habe
friſtete er ein einſames, ſonnenloſes Leben, jede Hand-
reichung, jeden Trunk Waſſer, ja jeden freundlichen
Blick bezahlend, Niemand zur Freude, Iidem zur Laſt,
ja oft zu einem Gegenſtande des Abſcheu und Schreck-
ens. Er fühlte es, und ach, wie tief! und es gab Stun-
den, wo er mit dem Geſchick grollte und ſich jene Ver-
bitterung ſeiner bemächtigte, die ihm die ganze Menſch-
heit verachten und haſſen ließ.
Eines Tages warf ein Anfall ſeiner ſurchtbaren
Krankheit den Unglücklichen auf der Straße nieder.
Ein Schwarm von Neugierigen ſammelte ſich um ihn,
aber nicht ein Einziger war darunter, der ſich ſeiner
hilfloſen Lage angenommen hätte. Endlich nahte ſich
eine ältliche Frauensperſon, ärmlich aber reinlich ge-
kleidet, ſie trug ein ſchwarz geblümtes Kattun-Tuch um
des Hals geknüpft wie eine Trauernde. Jungfer Leni
trauerte auch, recht tief und aufrichtig, und ihre Au-
gen waren rothgeweint, denn — lacht nicht liebe Le-
ſer — an demſelben Morgen war ihr — Vogel geſtor-
ben, der liebe hübſche Gimpel, ihr einziger Freund,
das einzige Weſen, dem ihr Liebe bedürftiges Herz Zu-
neigung, Sorge und Pflege widmen durfte, und das
dieſe Liebe auch vielleicht erwidert hatte. ö
Auf Frau Lenr's Geheis trug man den Kranken in
die Flur eines Hauſes, und als Friedrich N. wieder zu
ſich gekommen, die Augen aufſchlug, blickte er in die
ſanften grauen Augenſterne einer über ihn gebeugten
Frau, die als echte barmherzige Samariterin dem Lei-
denden Hilfe bot, ohne vor der Art dieſer traurigen
Krankheit feige zurückzuſchrecken. Seit der Stunde
liebte Jungfer Leni den armen Verlaſſenen, eben weil
er elend und ausgeſtoßen war, und er — nun, er —
„liebte ſie um ihres Mitleids willen.“
An dem Tage, wo die kleine beſiederte Leiche des
braven Gimpels dem kühlen Schooß der Erde üuͤberge-—
ben, und in einer Ecke des Höfes-eiugeſcharrt wurde
von Leni's Händen, bezog der alte Mann das „Kabi-
net“ der Jungfer, welche ſeitdem „Frau Leni“ von den
Hausleuten genannt wurde.
Der gütige Himmel beſcheerte den Beiden einige
kummerloſere Jahre. Durch die gute Pflege, die Leni
dem alten Manne zu Theil werden ließ, befeſtigte ſich
ſeine geſchwächte Geſundheit, der Frieden des Gemü-
thes kehrte zurück. Es fand ſich auch ſtets neue Ar-
 
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