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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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Heidelberger Volksblatt.

Nr. 26.

Mittwoch, den 1. April 1874.

—..8.T'

7. Jchrg.

eiſcheint Mittwoch und Samſtag. Prels monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à ekr. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4.

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Dunkle Exiſtenzen.
Bilder aus dem Leben der Armen. Von Ernſt von Waldow.

Schluß.)

Endlich machte ſie ſich auf den Heimweg, einige
extra verdiente Kreuzer in der Taſche. Dafür wollte
ſie ihm auch eine „Güte“ anthun, eine Flaſche Bier
oder etwa ein Stück Fleiſch zur Abendſuppe, gewiß,
er würde ſich freuen. Sie malte ſich das aus, es wollte
ihr dennoch heut nicht gelingen, in eine frohere Stim⸗—
mung zu kommen; ihr Herz klopfte ſo ängſtlich, wie
Blei hing es ſich an ihre Sohlen. Es war bitter kalt,
der Froſt ſchüttelte ſie; der rauhe Wind, der ſich er⸗—
hoben, jagte ihr einzelne Schneeflocken in's Geſicht.
Endlich erreichte ſie die bekannte Straße, überſchritt
hei Schwelle des alten grauen Hauſes, und war da-
eim. ö
Auf der Altane ſtand die Frau des Schuhmachers,
von dem Leni das dürftige Zimmer abgemiethet, und
die in ihrer Abweſenheit nach dem „Herrn“ zu ſehen
pflegte. Frau Müller mußte die Leni wohl erwartet
haben, denn ſie eilte ihr jetzt ſchnell entgegen, und ſo
der verwundert aufblickenden den Weg vertretend, ſprach
ſie haſtig und mehr verlegen als betrübt: „Frau Leni,
auf ein Wort, der Herrgott hat Euch die Laſt abgenom-⸗
men, nehmt's ruhig Frau, bedenkt, er iſt nun erlöſt,
ach und Du meine Zeit, wie ſchön iſt er geſtorben,
Gott tröſte ſeine Seele, kaum gewahr iſt er's gewor-
den, eingeſchlafen und nimmer d'erwacht, was kann's
Beſſ'res geben auf der'm Welt“, damit trocknete ſie ſich
mit der blauen Schürze eine Thräne ab, welche dieſe
Erwägung und wahrſcheinlich der Gedanke an ihre ſie-
ben Kinder und all' das Elend und die Noth des Le-
bens ihr erpreßt. ö ö
So konnte Frau Müller auch nicht den ſtarren, ent-

ſetzlichen Blick Leni's ſehen, die aus großen geöffneten

ugen ſie anblickte, keines Wortes, keines Rufes mäch-
tig — ſie hörte nur ein dumpfes Geräuſch, wie es
das Aufſchlagen eines Körpers auf den Boden zu ver-

urſachen pflegt, und haſtig aufſchauend, ſah ſie Leni

leblos zu ihren Füßen liegen.

* ö *
*

Der alte Mann war längſt in einem großen Schicht-

grabe des Vorſtadt⸗Kirchhofes zur ewigen Ruhe beſtat-

tet worden, der Frühling ſandte ſeine erſten zarten
Boten, die lieblichen Schneeglöckchen, der ſtarren Erde

zum Gruß, und ſelbſt in die Menſchenherzen, die von
Sorgen bedrückt, oder von Schmerzen zerriſſen waren,
ſtahl ſich allmählig ein Hoffnungsſchimmer, regte ſich
99 und da, wie draußen in der Natur, neues friſches
eben. ö
Freilich gab es heute wie immer auch ſolche bedau-
ernswerthe Geſchöpfe, die, gleich von Froſthauch er-
ſtarrten Blumen und Sträuchern, den Todeskeim im
Herzen trugen und nie und nimmer ſich zu friſchem
Leben und Blühen erholen konnten. So Leni. Aeu-
ßerlich gefaßt und ruhig, thränenlos und nie klagend,
lebte ſie doch in einem dumpfen Schmerzgefühle, in ei-

ner an Apathie grenzenden Gleichgültigkeit gegen ihr

eigenes Wohl und Wehe dahin, daß man ihr ganzes
Treiben und Weſen hätte eine langſam vollzogene
Selbſtvernichtung nennen können. ö
Leni war eine gläubige fromme Seele, um die Welt
hätte ſie nicht Hand an ſich gelegt, und doch zog ihr
in manch verzweifelter Stunde die Frage durch's Herz,
ob es denn gar ſo ſündhaft wäre, ſich abzuwenden vom
Leben, das ihr, der Vereinſamten, nichts mehr bot,
was eines Wunſches werth erſchien, die nimmer er-
mattende Sehnſucht nach ihm nie ſtillte, nach ihm, dem
ein der ſie geliebt — konnte das wirklich Sünde
ein? ö —
Allabendlich wanderte ſie, in gutem oder ſchlechtem
Wetter auf den Friedhof, wo „er“ ruhte, und betete
an dem großen Grabe, in dem ſo viele Herzen, die
gleiches Leid getragen, nun zu Staub und Aſche zer-
fielen. Reiche Leute bettet man ja in eigene, ſchön
verzierte Gräber, nur die Kinder der Armuth und des
Elends ſchlafen vereint den tiefen erquickenden Schlum-
mer, welchen der Friebertraum des Lebens nicht mehr
unterbricht. ö ö
Den „Zins“ zahlte Leni der Schuhmacherfrau pünkt-
lich; ſie wollte den kleinen Raum nicht mehr verlaſſen‚
wo ſie glücklich geweſen. *
Alle Tröſtungen und Einmiſchungen der gutmüthi-
gen Nachbarsleute wies ſie mit einer gewiſſen Herbheit
zurück. Nur einmal, als es der Quartierfrau denn
doch auffiel, daß die „Jungfer“ Leni, wie fie jetzt wie-
der hieß, da ſie keinen „Herrn“ mehr hatte, ſo gar
elend und bleich im Geſichte ausſchaute, und ſie ihr
mitleidig eine Taſſe Kaffee trug, ließ Leni ſie einen

Blick in ihr Herz thun. Sie ſaß nämlich im finſteren,

kalten Kämmerchen ſtill und faſt unbeweglich da, kein
 
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