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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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zu Grunde! Warum nimmt Sie keine Näharbeit mehr
an, daß Sie ſich wie ſonſt beſſer nähren könnte, da

Feuer im Oſen, kein Brod auf dem Tiſch, die Schuh-
machersfrau ſchlug entſetzt die Hände zuſammen. „Jung-

fer Leni, das iſt nicht Recht von Ihr, ſo geht ſie ja

würden die Kräfte ſchon wiederkommen!“

Es war ein wunderſeltſames bitteres Lächeln, das
bei dieſen Worten um den Mund der Kranken ſpielte,

dann erwiderte ſie langſam: „Ihr meint ich ſollt heute

Commißhemden nähen, damit ich morgen und über-
morgen und weiterhin wieder und wieder welche nähen
kann. Seht das lohnt mir eben nicht, da will ich lie-
ber heut keine mehr nähen, damit ich dafür alle Tage
von der Arbeit erlöſt bin. Wer für Niemand mehr
auf der Welt iſt, als für ſich allein, und es ohndem
ſchlecht hat, für den iſt's beſſer, er liegt und ruht, es
verlohnt ſich das Leben die Müh' nicht mehr, die es
einem koſtet, wenn man's erhalten will!“ —
Ein Philoſoph aus der Schopenhauer'ſchen Schule
würde dieſe Worte wohl leicht verſtanden und in ſein
Idiom übertragen haben, die ehrliche Schuhmachersfrau
ſchüttelte nur den Kopf dazu, fühlte aber doch dunkel,
daß nicht Alles richtig war, denn ſie meinte verwei-

ſend: „Rede Sie nicht ſo gottesläſterliches Zeug und

trinke Sie den Kaffee hier warm!“
denn ihr Jüngſter ſchrie erbärmlich.
Spät Abends ſchaute ſie noch einmal durch das
Fenſter auf der Altane in das Stübchen der Jungfer
Leni und freute ſich, daß dieſe ihre Worte beherzigt,
wenigſtens nähte ſie fleißig beim Scheine der kleinen
grünen Schirmlampe. Manchmal hielt ſie freilich inne
und lehnte ſich wie ermattet zurück, dann aber beugte

Damit ging ſie,

ſie ſich deſto emſiger über ihre Arbeit, als müſſe ſie

dieſelbe heut noch vollenden.
Und dies war auch der Fall, denn ehe der nur noch
matt glimmende Docht der kleinen Lampe gänzlich er-
loſchen, lag auch ſchon, ſauber gefaltet, das lange weiße
Hemd, an dem Leni genäht, auf dem Bett, das ſie

heute nicht berührt, denn in dem alten ſchwarz bezo⸗“

genen Sorgenſtuhle, auf dem ſie die Nacht über wäh-
rend ihrer Arbeit geſeſſen, war ſie auch entſchlafen.
Und es war ein tiefer, feſter Schlaf, der ſich auf
ihre Wimpern geſenkt; der röthliche Morgenſonnen⸗—
ſtrahl küßte die bleichen Wangen, die bläulichen Lippen,
und malte trügeriſche Roſen auf dieſelben, machte ſie,
wie zum Lächeln ſich kräuſeln; zu erwecken vermochte
er aber die Schläferin nicht!

Auch das muntere Lied der Vögel, die dem Tage

entgegenjubelten, ward nicht mehr von der bleichen Frau

gehört, deren gefaltene Hände ein mit vielen Thräüen

benetztes Blättchen umſchloſſen, das zwei Liebespfän-
der barg: eine Locke von dem ſpärlichen Haar des tod-

ten Geliebten und eine Feder aus dem Flügel des klei-
nen gefiederten Lieblings!

Der Kaffee, den die mitleidige Nachbarin gebracht,

ſtand unangerührt auf dem Tiſche, über Leni's Lippen

war ſchon tagelang keine Speiſe mehr gekommen. In

dem zerleſenen Gebetbüchlein aber lag gar ein profa-
nes Lied, wie es die Leierkaſten- oder „Werkel⸗Män-


nere zu ſingen pfle ö
Liebe über das Grad hinaus, von Anem modernen

Leni mit zitternder Hand geſchrieben

dies treue, liebende Herz brach.

gen, und das erſiht e von einer

Eduard und ſeiner Kunigunde, und an den Rand hatte
„Was iſt das Leben ohne Liebesglanz,
Ich werf es hin, da ſein Gehalt entſchwunden.
Der Armenarzt, den man rief, den Tod der Jung-
fet Leni zu konſtatiren, murmelte zwar unter bedau-
erndem Ropfſchütteln etwaͤs von „ſchlecht genährt,

Mangel an kräftiger Speiſe ꝛc.“ voͤr ſich hin, wir aber

wiſſen es beſſer, was die Todesurſache war und warum
Und wenn auch kein
Dichtergenius die Geſtalt der altjüngferlichen Leni ver-
klärt, gleich der Ottiliens und ſie unbeweint hinabge-
ſenkt ward in des Schichtgrab der Armen, gehüllt in
das ſelbſt genähete Todtenhemd. Einige gibt es doch,
welche ſie kennen, die Geſchichte dieſer Liebe über das
Grab hinaus, und dieſe erzählen ſie Andern zum Be-
weiſe, daß doch nicht ganz auf Erden die Treu' ent-
ſchwunden ſei, wie es in dem alten Liede heißt.

——————

Ein welthiſtoriſches Räthſel.
Von Dr. Eu gen Sierke.

(Fortſetzung.)

Es war dem neuen Haushofmeiſter des kleinen
Dauphin von Marat, ſeinem Hauptgönner von vorne

herein auf's Strengſte eingeſchärft worden, niemals
ſeinen Zögling allein zu laſſen, ſogar der Spaziergang

im Garten des Kerkers war ihm nur erlaubt, wenn er
ſich mit dem Dauphin zur feſtgeſetzten Zeit unter Auf-
ſicht eines Municipalbeamten dort einfand. Das Ver-
laſſen des Thurmes war ihm gänzlich unterſagt wor-
den. Simon nahm es mit ſeiner Pflicht ſehr gewiſſen-
haft und befolgte die Inſtruction der Conventmitglie-⸗
der aufs Genaueſte. Allein er befand ſich dabei doch
in einem ſtarken Irrthum. Er glaubte nämlich, es
wäre ſeine Aufgabe, aus dem jungen „Tyrannen“ ei-
nen rechtſchaffenen Sansculotten zu machen, daß er den
Knaben körperlech und geiſtig zu Grunde richten ſollte
— davon hatte er anfangs keine Ahnung. — In die-

ſer Abſicht nun behandelte er ihn, wie er es für ſeinen

Zweck am dienlichſten erachtete, das heizt, er ſang ihm
rohe, revolutionäre Lieder vor, prügelte ihn, wenn er
nicht gehorchen wollte, betäubte ihn mit ſtarken Spiri-
tuoſen und verübte ähnliche Brutalitäten an dem Kna-
ben. Später, als er von den Commiſſaren des Wohl-
fahrtsausſchuſſes die eigentlichen Abſichten erfahren
hatte, die ſich auf den Prinzen bezogen, verfuhr er noch
raffinirter.
Er ließ den Knaben darben und ſuchte ihn durch
abſichtliche Erkältungen, durch Zwang zur übermaͤßigen

Einnahme ſchwer verdaulicher Speiſen und durch Nö.
 
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