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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 10 - Nr. 17 (4. Februar - 28. Februar)
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den unter den Sitzen angebracht, ich ſelbſt machte mir's
bequem, ſagte meinem Kollegen gute Nacht und der
Kondukteur ſchloß die Thüre. Als der Zug bereits
langſam in Bewegung war, ſah ich zwei Männer aus

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der Eiſenbahn⸗Reſtauration kommen, quer über den

Perron laufen und in das nächſte Coupe meines Wag-
gons einſteigen. Das überraſchte mich beſonders deß-

halb, weil Beide ganz gleich gekleidet und Einer von
ihnen zweifelsohne der Mann war, welcher vorhin mei-

nen Weg vor unſerm Bankgebäude kreuzte. Ich ſah

das Alles beim Scheine der Laterne, welche der Kon-

dukteur hielt, der ihnen die Coupethüre öffnete. Wie
geſagt man iſt ſehr mißtrauiſch, wenn man viel an-

vertrautes Geld in ſeiner Nähe hat, und das Erſchei-

nen dieſer beiden Leute gefiel mir ſo wenig, daß ich
den Hausknecht erſucht hätte, mit mir zu fahren, wenn
das nicht zu ſpät geweſen wäre. j
reits mit voller Kraft aus dem Bahnhof hinaus und
brauste in einen Tunnel hinein. Ich hatte jetzt Zeit,

mir Alles zu überlegen, und fand, daß das Geld doch

im Ganzen ziemlich ſicher ſei. Mein Coupe war feſt ge-
ſchloſſen und vollſtändig durch eine ſtarke Scheidewand
von dem andern getrennt; außerdem behinderte die
Bewegung des Zugs Jedermann, mich von außen zu

Der Zug fuhr be-ö

erreichen, wie es mich freilich auch behindert hätte, zu

den Kondukteuren im vorletzten Wagen zu gelangen.
Das genügte im Grunde, und auf der nächſten Station
konnte ich immer noch Jemand zum größeren Schutze
des Geldes hereinnehmen, wenn ich mich wieder beun-
ruhigt fühlen ſollte. Mit dem Gefühle der Sicherheit
kehrte eine gewiſſe Erſchlaffung bei mir ein, die viel-
leicht eine Folge des Wetters und der Bewegung der
Eiſenbahn war. Ich lehnte mich in die weichen Pol-
ſter zurück und verſank in einen Traumzuſtand, der in-
deſſen durchaus kein Schlaf war, denn ich hörte jedes
Geräuſch und fühlte jede ſchlechte Schienenſtelle. Plötz-
lich war es mir, als ob der Zug laͤngſa er ginge und
als ob das brauſende Geräuſch, welches ein im Lauf
befindlicher Train macht, in der Ferne erſtürbe. Ich
fuhr auf und ſah aus dem Fenſter. Himmel! was
war das? — Der Zug, an welchem mein Waggon an-
gehängt war, erſchien weit voraus und brauste mit ſol-
cher Geſchwindigkeit fort, während mein Waggon nicht
etwa ſtillſtand, ſondern eing retrograde Bewegung nach
W. machte. Und dieſe Bewegung zurück wurde immer
rapider, ohne daß ich die Kraft ſah, welche das be-
werkſtelligte — wir mußten hier an einer geneigten
Bahnſtelle ſein. Der Zurücklauf meines Waggons wurde

ſchneller und immer ſchneller, zuletzt ſo ſchnell, wie wir

vorhin vorwärts geſtrebt hatten, als der Wagen noch
am Zug hing, und mich packte namenloſes Entſetzen.
Meine Kniee zitterten, die Haare ſtanden mir zu Berge,
kalter Schweiß ſtand auf meiner Stirn ich war einer

Ohnmacht nahe, als der rapide Lauf des Waggons

etwas nachließ. ö ö
Endlich ſtand der Wagen. Ich hörte einen Ton
wie das Herumdrehen eines Schlüſſels, noch ein Mo-
ment und ich ſah die Thüre öffnen, nud derſelbe Menſch,
welcher mir vor dem Bankgebäude begegnet war,

flocken draußen.

ſtreckte mir ein geſpanntes Piſtol entgegen. Sein mas-
kirtes Geſicht war ſchaͤrf von dem Lichte der Waggon-
lampe beſchienen und er hatte einen Ausdruck in ſei-

nen Zügen, der durchaus nicht auf Scherz ſchließen

ließ. Ich trat einen Schritt zurück, denn das kalte
Eiſen des Piſtols befand ſich gar zu nahe an meiner
Stirn, und wurde jetzt von hinten ergriffen, der Hel-
fershelfer des Räubers war durch eine andere Thür

eingetreten. Ich machte einen Verſuch, mich zu befreien

und mich mit ganzer Gewalt auf mein vis-A-vis zu wer-
fen, aber der Verſuch mißlang.

Ich ſah nur noch,
wie er ſein Piſtol verkehrt nahm, wie der Handgriff
der Waffe auf meinen Kopf niederfuhr, nud dann hörte
ich ein Sauſen und Klingen, und es wurde blutroth
vor meinen Augen und die Sinne verließen mich.
Als ich zu mir ſelbſt kam, lag ich auf dem Fuß-
boden des Wagens, zu ſchwach, um mich zu bewegen;
die Thüren ſtanden beide offen und der Winterſturm
fuhr mit ſeiner ganzen Gewalt hindurch; der Kälte
und Näſſe hatte ich es wohl zu danken, daß ich einen
Moment erwacht war. Ich wußte nicht recht, was mit
mir geſchehen war. Meine Gedanken wirbelten chaotiſch
durcheinander, wie die mit Regen gemiſchten Schnee-
Ich wußte nur, daß ich eigentlich in
M. ſein ſollte und daß irgend etwas Schreckliches mit
mir vorgegangen. Da hörte ich plötzlich den ſchrillen
Pfiff einer Lokomotive aus der Richtung von M., und
ſo kaͤnfus meine Gedanken waren, es fiel mir ſogleich
ein, daß der kommende Zug meinen Waggon zerſchel-
len mußte, wenn der Lokomotivführer bei dem Sturm
das Hinderniß auf ſeinem Wege nicht rechtzeitig ſah.
Ich machte einen verzweifelten Verſuch, mich zu erhe-
ben, aber es ging nicht, mein Kopf war ſchwer wie
Blei. Noch einmal ertönte der ſchrille Pfiff und die-

ſesmal aus größerer Nähe, und dann antwortete eine
andere Pfeife von der andern Seite. Es kamen ſich
zwei Züge entgegen — mir erſtarrte das Blut in den
Adern, noch einige Sekunden und mein Wagen mußte
zu Atomen zertrümmert und ich zerquetſcht ſein zu ei-

ner formloſen Maſſe. Der ſchreckliche Gedanke und

der erlittene Blutverluſt warfen mich in eine neue,

wohlthätige Ohnmacht.
(Schluß folgt.)

Der König der Zigeuner.
(Schluß.)

Am Tage vor der Wahl ſtrömten Bettler aus al-
len Theilen. Englands der Hauptſtadt in Mengen zu;
denn ein jedes Glied der Geſellſchaft hat nicht nur das

Recht, bei der Königswahl mitzuſtimmen ein jedes Glied

hält es auch unverträglich mit der Freiheit, zu der der

Menſch geboren iſt, ein Privilegium nicht in Anſpruch
zu nehmen, das ihn in einer ſo wichtigen Angelegen-

heit mitwählen heißt.
 
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