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WANDLUNG UND WIEDERKEHR
Beim Blick auf die Geschichte der Kultur drängt
sich zunächst der ungeheure Reichtum an Wand-
lungen auf. Er ist nicht nur festzustellen in den gei-
stigen Ausschlägen des Kulturbewußtseins, also in
dem, was wir heute das Weltgefühl, die Lebensstim-
mung der einzelnen Epochen nennen, ausgedrückt in
Religion, Kunst undDichtung. Der Wandel beherrscht
gleichermaßen den kulturellen Apparat, die Formen
des gesellschaftlichen Daseins, des Bauens und Woh-
nens. Wievieles trennt unsern heutigen Lebenszu-
schnitt von dem unsrer Großväter! Über alle Fassun-
gen, die sich das Leben eines Geschlechtes gegeben
hat, streben die Nachkommenden hinaus. Das eine
Zeitalter kehrt in seiner Lebensgestaltung einen kar-
gen Ernst, eine asketische Weltflucht hervor, das
andre lebt in goldener Heiterkeit und strahlender Da-
seinsfreude. Bald herrschen die Mächte des Verstan-
des und zirkeln alle Gestaltungen nach Zahlenver-
hältnissen ab, bald brechen die Kräfte des Gemüts
hervor und regeln die kulturellen Erscheinungen nach
Gesetzen des pflanzlichen Wachstums, so daß Häuser
und ganze Städte eher aus Naturkeimen gewuchert
als von Menschenhand gebaut scheinen.
Was ist die Triebkraft in diesem kaleidoskopischen
Wechselspiel ? Wer darauf eine klare Antwort zu ge-
ben wüßte, hätte ein Kerngeheimnis des Lebens ent-
hüllt! Wir sehen nur: Überall tragen die Formen des
Kulturausdrucks in sich den Keim, ja die Notwendig-
keit der Weiterbildung. Sie müssen sich wandeln,
um den lebenden Menschen zu befriedigen. Die Un-
ruhe ist für sie Gesetz. Der Mensch wächst über jeden
Ausdruck, den er geschaffen hat, unwiderstehlich hin-
aus. Womit er gestern glücklich war, das bedrückt ihn
heute und feindet ihn morgen an.
Und nun gibt es einen zweiten Aspekt der Kultur-
entwicklung, der gerade das Gegenteil vor den Blick
bringt. Alle Entwicklung, lehrt er uns, spielt sich in
den Spuren, in den Geleisen ab, die vom einmal Be-
gonnenen vorgezeichnet wurden. Kein Wechsel in
den Formen gibt die einmal eingeschlagenen Wege
WOHNUNO DR. D. »SCHLAFZIMMER« MÖBEL: KIRSCHBAUM NATUR, DECKE: ROSTROTE SEIDE, VORHÄNGE: GRONER VOILE
WANDLUNG UND WIEDERKEHR
Beim Blick auf die Geschichte der Kultur drängt
sich zunächst der ungeheure Reichtum an Wand-
lungen auf. Er ist nicht nur festzustellen in den gei-
stigen Ausschlägen des Kulturbewußtseins, also in
dem, was wir heute das Weltgefühl, die Lebensstim-
mung der einzelnen Epochen nennen, ausgedrückt in
Religion, Kunst undDichtung. Der Wandel beherrscht
gleichermaßen den kulturellen Apparat, die Formen
des gesellschaftlichen Daseins, des Bauens und Woh-
nens. Wievieles trennt unsern heutigen Lebenszu-
schnitt von dem unsrer Großväter! Über alle Fassun-
gen, die sich das Leben eines Geschlechtes gegeben
hat, streben die Nachkommenden hinaus. Das eine
Zeitalter kehrt in seiner Lebensgestaltung einen kar-
gen Ernst, eine asketische Weltflucht hervor, das
andre lebt in goldener Heiterkeit und strahlender Da-
seinsfreude. Bald herrschen die Mächte des Verstan-
des und zirkeln alle Gestaltungen nach Zahlenver-
hältnissen ab, bald brechen die Kräfte des Gemüts
hervor und regeln die kulturellen Erscheinungen nach
Gesetzen des pflanzlichen Wachstums, so daß Häuser
und ganze Städte eher aus Naturkeimen gewuchert
als von Menschenhand gebaut scheinen.
Was ist die Triebkraft in diesem kaleidoskopischen
Wechselspiel ? Wer darauf eine klare Antwort zu ge-
ben wüßte, hätte ein Kerngeheimnis des Lebens ent-
hüllt! Wir sehen nur: Überall tragen die Formen des
Kulturausdrucks in sich den Keim, ja die Notwendig-
keit der Weiterbildung. Sie müssen sich wandeln,
um den lebenden Menschen zu befriedigen. Die Un-
ruhe ist für sie Gesetz. Der Mensch wächst über jeden
Ausdruck, den er geschaffen hat, unwiderstehlich hin-
aus. Womit er gestern glücklich war, das bedrückt ihn
heute und feindet ihn morgen an.
Und nun gibt es einen zweiten Aspekt der Kultur-
entwicklung, der gerade das Gegenteil vor den Blick
bringt. Alle Entwicklung, lehrt er uns, spielt sich in
den Spuren, in den Geleisen ab, die vom einmal Be-
gonnenen vorgezeichnet wurden. Kein Wechsel in
den Formen gibt die einmal eingeschlagenen Wege
WOHNUNO DR. D. »SCHLAFZIMMER« MÖBEL: KIRSCHBAUM NATUR, DECKE: ROSTROTE SEIDE, VORHÄNGE: GRONER VOILE