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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 76.1926

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Christoffel, Ulrich: Neuere Münchner Wohnbauten
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https://doi.org/10.11588/diglit.7093#0146

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unsere Gegenwart und die nächste Zukunft diese letzte
Aufgabe lösen müssen und dafür ihre schöpferischen
Kräfte verbrauchen: sie wird neue Typen hervorbrin-
gen und neue Formen erzeugen, die dann ihrerseits wie-
der auf die andern Baugebiete zurückwirken und Kir-
chen und Wohnbauten unter ihren „Stil" zwingen, so
wie in der Epoche des Kirchenbaus alle Architekturen
etwas von der kirchlichen Bauart angenommen haben
oder im Barock Kirchen und Profanbauten dem Ge-
schmack der Schlösser sich anpaßten. Das sind unbe-
wußte künstlerischeWirkungsgesetze, denen sich keine
Zeit und kein Künstler entziehen kann und deren Re-
sultate oft erst die spätem Zeiten erkennen können. Sie
sind aber evident vorhanden und müssen bei jeder kri-
tischen Betrachtung der Architektur berücksichtigt
werden. Was ist die Zentralaufgabe unserer Zeit und
wie verhalten sich die Nebenaufgaben zu dieser Haupt-
aufgabe? Wieviel von dem Zentralbau willen einer Ge-
genwart verkörpert der einzelne Architekt in sich? Wo,
in welchem Land und in welcher Stadt verwirklicht sich
das Bauideal einer Zeit am vollkommensten und wie
verhalten sich die von der Geschichte benachteiligten
Orte zu den Aufgaben ihrer Zeit? Nach diesen Fragen
kann man wohl alle Baukunst aller Zeiten einigermaßen
beurteilen, denn die Kritik beruht nicht auf abgeleite-
ten, doktrinären Leitsätzen, sondern auf einem Gefühl
für das Dynamische einer Zeit. Wo man die höchst
erreichbare Spannung feststellen kann, da wird die
beste Baukunst einer Zeit gemacht.

München wird nun an den Bauaufgaben unserer Zeit
nur weniger teilnehmen, soweit es sich um Industriebau-
ten handelt. München ist die Stadt behaglichen Lebens
und bürgerlicher Ausgeglichenheit, bestimmt in unruhi-
gen Zeiten des Experimentierens stetige Richtungen
innezuhalten und einen gewissen Besitz künstlerischer
Erfahrung zu hüten. Ein urwüchsiges, unverbrauchtes
Hinterland bewahrt die Stadt durch den Zufluß bäuerli-
chen Blutes vor Stagnation und erhält ihr den gesunden
Sinn für das Nötige und Praktische, so daß die Stadt nie
in ihrer eigenen übersättigten städtischen Kultur erster-
ben kann. München war immer mehr eine Hofhal-
tung mit dörflichen Beisassen als eine Stadt und hat dar-
um noch alle Möglichkeiten einer solchen vor sich. Wohl
auch aus seinen ländlichen Instinkten hat München sich
als eine der ersten Städte von der verfälschten, angemaß-
ten Wohnbarbarei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts abgewendet und den Weg zur Gesundung und
Vereinfachung beschritten. So trifft es in seiner büi'ger-
lichenWohnarchitektur mit einigen Tendenzen der mo-
dernen Arbeiterbaukunst zusammen, obwohl die Her-
kunft seiner Neuerungen mehr aus der Tradition des
Landes als aus der Dynamik derGegenwart abzuleiten ist.

Es ist die besondere Stärke der Münchner Bau-
kunst, daß sie das gute Herkommen mit den Neue-
rungen der Gegenwart konfliktlos zu verbinden ver-
steht und die Tradition unmerklich in Neuschöpfung
überführt. Abkehr vom Dekorativen, Vereinfachung
der Bauformen, Betonung des Konstruktiven sind die
wichtigsten Tendenzen der Gegenwartsarchitektur,
denen auch der Münchner Wohnbau folgt. Wie zu
Beginn des 17. Jahrhunderts etwa bei Elias Holl oder zu
Beginn des 19. Jahrhunderts in den Bauten des Klassi-
zismus, versucht eine neue Auffassung auch heute wie-
der, die architektonischen Urgesetze der Beziehung der
Wände zum Baukörper zum alleinigen Prinzip des
Bauens zu machen, und alles Beiwerk und Ornament
wegzulassen. Vor hundert Jahren war es die Verbür-
gerlichung einer Luxuskultur, die zur Vereinfachung
des Bauens und Wohnens führte, die man im Bilde der
Antike suchte. Heute ist es die wirtschaftliche Notlage
und mehr noch das an den Maschinen geschulte Den-
ken, das das Bauen zu einer sozusagen abstrakten Rech-
nung mit Proportionen, Abmessungen, statischen Ver-
hältnissen macht und überall die äußerste Sparsamkeit
an Material und Mauerwerk innehalten will. Für den
reichern bürgerlichen Wohnbau ist diese moderne As-
kese weniger erwünscht und der Architekt hält sich
darum an die Vorbilder der Renaissance oder des Klassi-
zismus, also an jene Zeiten, die den bürgerlichen Stil
des Wohnens recht eigentlich begründet haben.

Das historische Jahrhundert ist vorüber und man
hat für die äußerliche Nachahmung vergangener Stil-
arten j edes Verständnis verloren. Dafür ahmt unser Jahr-
hundert die primitiven Völker nach, indem es voraus-
setzungslos bäuerlich lebt und am liebsten zu den Sitten
und Bräuchen geschichtsloser Volksstämme zurück-
kehren möchte. Oft wird diese Anspruchslosigkeit bis
zum Proletarischen getrieben und der Unterschied zwi-
schen Gebildet und Ungebildet im geistigen Sinn ver-
schwindet allmählich aus dem soziologischen Bild des
Volkes. Für die Baukunst hat diese primitivistische
Passion die letzte Vereinfachung auch der Innenein-
richtung des Hauses zur Folge. Der extreme Fall wäre
ein zusammenlegbares, technisch vollendet konstruier-
tes Haus, das man an jeder Stelle wieder aufschlagen und
zu einem behaglichen, geschmackvollen, aber immer
provisorischen, beweglichen „Heim" entfalten könnte,
das Nomadenzelt als komfortable Wohnmaschine kon-
struiert. In der Praxis begnügt man sich, Bauernhäuser
nachzuahmen und damit zu einem Wohntyp zu ge-
langen, der sich durch Jahrhunderte hindurch biolo-
gisch bewährt hat.

Bei aller Einfachheit und Anspruchslosigkeit bleibt
immer der Wunsch lebendig, dem Hause eine be-

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