BIEBER UND HOLLWECK • MÜNCHEN • HAUS IN DRESDEN
Mann es gelegentlich nennt — und es gibt drängende
Genies. Den ersteren Typus hatte man zeitweise voll-
ständig vergessen. In der Literatur mag man nicht
schlecht mit diesem Geniebegriff gefahren sein. Wir
haben uns darum nicht zu kümmern. Aber selbst im
literarischen Schaffen hatte man nicht immer so ge-
dacht. Es war im Höhepunkt der Krisis, als mir bei
Balzac der erstaunliche Satz entgegentrat: „Eine der
wesentlichsten Eigenschaften des Genies ist die Geduld.
Denn die Geduld ist es, in der menschliches Schaffen
dem Wachstum der Natur am ähnlichsten wird." Wir
aber hatten uns auf das Leugnen und auf das Schwatzen
verlegt. Voraussetzungen fielen, eine nach der andern
wie Zinnsoldaten. Kunst durfte nichts mehr mit Form
zu tun haben. Am liebsten hätte man Kunst ohne An-
schauung geschaffen, wenn das möglich wäre. Musik
ohne Harmonie, Dichtung ohne Vorstellung. Und für
die Philosophie prägte man ein Wort, das zum minde-
sten den Vorzug des Humorvollen auf seiner Seite
hat: „Vokabelmischung". Im Lauf von etwa fünf
fahren, während unter den Starken der Tod eine furcht-
bare Ernte hielt, hatten es die Schwachen dahin ge-
bracht, das Geistige im Menschen, seinen Gestaltungs-
drang, zu dem platten Unsinn des Dadaismus herab-
zuwürdigen. Die Nachdenklichen begannen sich zu
fragen, was für so viel Zersetzung denn an Gegenwerten
geschaffen worden sei. Ich könnte mir vorstellen, daß
in der Dumpfheit der letzten Kriegsjahre ein entschlos-
senes Verzichtsideal, eine ernstliche Abkehr vom Bild-
lichen zugunsten der reinen Humanität, des rein
Sozialen, des rein Religiösen dieHerzen hätte entzün-
den müssen. Aber dieser Ruf blieb aus. Die Neuerer
kamen, was die Ideenkraft angeht, mit leeren Händen.
Sie verbündeten sich mit dem internationalen Snobis-
mus und standen sich dabei wirtschaftlich keineswegs
schlecht. Die Galerien kauften ihre Werke als Zeit-
symptom. Denn eine Wendung war kaum mehr ab-
zusehen. — Anzunehmen wäre nun, daß die Vertreter
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Mann es gelegentlich nennt — und es gibt drängende
Genies. Den ersteren Typus hatte man zeitweise voll-
ständig vergessen. In der Literatur mag man nicht
schlecht mit diesem Geniebegriff gefahren sein. Wir
haben uns darum nicht zu kümmern. Aber selbst im
literarischen Schaffen hatte man nicht immer so ge-
dacht. Es war im Höhepunkt der Krisis, als mir bei
Balzac der erstaunliche Satz entgegentrat: „Eine der
wesentlichsten Eigenschaften des Genies ist die Geduld.
Denn die Geduld ist es, in der menschliches Schaffen
dem Wachstum der Natur am ähnlichsten wird." Wir
aber hatten uns auf das Leugnen und auf das Schwatzen
verlegt. Voraussetzungen fielen, eine nach der andern
wie Zinnsoldaten. Kunst durfte nichts mehr mit Form
zu tun haben. Am liebsten hätte man Kunst ohne An-
schauung geschaffen, wenn das möglich wäre. Musik
ohne Harmonie, Dichtung ohne Vorstellung. Und für
die Philosophie prägte man ein Wort, das zum minde-
sten den Vorzug des Humorvollen auf seiner Seite
hat: „Vokabelmischung". Im Lauf von etwa fünf
fahren, während unter den Starken der Tod eine furcht-
bare Ernte hielt, hatten es die Schwachen dahin ge-
bracht, das Geistige im Menschen, seinen Gestaltungs-
drang, zu dem platten Unsinn des Dadaismus herab-
zuwürdigen. Die Nachdenklichen begannen sich zu
fragen, was für so viel Zersetzung denn an Gegenwerten
geschaffen worden sei. Ich könnte mir vorstellen, daß
in der Dumpfheit der letzten Kriegsjahre ein entschlos-
senes Verzichtsideal, eine ernstliche Abkehr vom Bild-
lichen zugunsten der reinen Humanität, des rein
Sozialen, des rein Religiösen dieHerzen hätte entzün-
den müssen. Aber dieser Ruf blieb aus. Die Neuerer
kamen, was die Ideenkraft angeht, mit leeren Händen.
Sie verbündeten sich mit dem internationalen Snobis-
mus und standen sich dabei wirtschaftlich keineswegs
schlecht. Die Galerien kauften ihre Werke als Zeit-
symptom. Denn eine Wendung war kaum mehr ab-
zusehen. — Anzunehmen wäre nun, daß die Vertreter
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