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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 76.1926

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Rose, Hans: Jugendstil und Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7093#0158

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gegenständ, die Industrialisierung und somit die Gene-
ralisierung. Meines Wissens hat man nie in der Ge-
schichte des Kunstgewerbes grundsätzlich so Hetero-
genes gewollt. Der breite Reichtum der Vorkriegszeit
duldete und befriedigte beides nebeneinander. Der
individuelle Trieb war edler, in tieferem Sinne künst-
lerisch. Der typisierende dagegen praktischer, sozialer
und darum nachhaltiger in seiner Wirkung.

Schon im Beginn des 20. Jahrhunderts hatte eine Be-
wegung eingesetzt, in deren Verlauf die besten künst-
lerischen Kräfte aus den bildenden Künsten in das
Kunstgewerbe abwanderten. Man erlebte eine Wie-
dergeburt der Mosaikkunst, der Glasmalerei, der Me-
tallbearbeitung, der Textilkunst, der Keramik usw.
und man hat allen Anlaß, den Meistern dieser Künste
Dank zu wissen. Denn was sie schufen, war so herr-
lich, daß das Kunstgewerbe des ganzen 19. Jahrhun-
derts in ein Nichts zusammensank. Es ist ein Gebot
der Gerechtigkeit, das Gedächtnis wach zu halten für
den Wert des Geleisteten. Denn noch in den 90er Jahren
war es erbärmlich damit bestellt gewesen. Gar man-
cher stimmt Klagen darüber an, daß die heutige Zeit
Männer vom Schlage eines Leibi, eines Marees nicht
mehr hervorbringe. Aber nur wenige sind sich dessen
bewußt, zwischen welchen Abscheulichkeiten von
Hausgerät die Bilder dieser Künstler ihren Platz fanden.
Man möchte heute kaum um den Preis dieses Bildbe-
sitzes in Räumen dieser Art leben, und kein Galerie-
direktor wird jemals auf den Gedanken verfallen, einen
Manet oder einen frühen Liebermann im ursprüng-
lichen dekorativen Zusammenhang zur Schau zu stel-
len. Gerade in reichen Häusern war das Kunstgewerbe
von Makart abhängig geblieben. Gut eingerichtet
waren nur diejenigen, denen Möbel aus dem Bieder-
meier überkommen waren und die sich seitdem nichts
Neues mehr hatten anschaffen können. Man bedauerte
sie aufrichtig. Nachdem aber die Krise von 1901 über-
wunden und das gröbste von revolutionären Tollheiten
ad absurdum geführt war, wurden nicht nur die Ein-
zelgegenstände sinnvoller gestaltet, sondern man lernte
sie auch dekorativ zueinander abzustimmen. Man
machte sich los von den alten Garnitursystemen und
komponierte frei aus Stücken von höchst individueller
Art. Allerdings kamen die individuell hergestellten
Möbel unverhältnismäßig teuer zu stehen. Viele, vor-
nehmlich die adeligen Kreise, zogen es daher vor, sich
mit Antiquitäten einzurichten. Wer aber weniger Ge-
schmack oder weniger Mittel besaß, war mit den
billig hergestellten Typenmöbeln immer noch besser
bedient als mit dem barocken Schwulst der ehemaligen
Polstermöbel-Garnituren. Speziell das Typenmöbel
hatte den Kampf gegen den Barock aufgenommen,

ohne daß es ihm gelungen wäre, seine programma-
tische Nüchternheit durch höhere künstlerische Ge-
staltung zu überwinden. Es vermied lediglich das
Störende und die ganze Richtung endigte in der Büro-
möbelfabrikation.

Unterdessen hatte sich die Dekoration zur Hüterin
der barocken Ideale aufgeworfen und entledigte sich
ihrer Aufgabe um so würdevoller, als die Baukunst
ihr in wachsendem Maße schön geformte und schön
belichtete Räume zur Verfügung stellte. Durch die
Gewöhnung führender Kreise, ihre Räume mit Anti-
quitäten auszustatten, hatten sich auch im Mobiliar
mancherlei barocke Gedanken wieder eingeschlichen,
und nachdem ein Versuch der „Scholle", die Dekora-
tion mit starkfarbigen, großflächigen, barocken Wand-
gemälden zu bestreiten, vorwiegend der Theaterkulisse
und dem Plakat zugute gekommen war, ließ man sich
recht gern von englischen Architekten zur Chinoiserie
und über diese zum Rokoko verführen, zu einem Stil
also, der bis vor kurzem verfehmt gewesen war und
den man nunmehr mit gereiftem dekorativem Können
handhabte. München gewann auch in dieser Bewe-
gung die Führung. Man verstand das Rokoko nicht
mehr als historische Maskerade, wie im 19. Jahrhun-
dert, sondern als totalen Stil, der das ganze Haus durch-
walten müsse. Man verstand es von der Seite des Deli-
katen, ja, des Praktischen. Das heißt, man suchte nicht
das höfische Rokoko vom Jahre 1720 nachzuahmen,
sondern fühlte sich wahlverwandt mit dem bürger-
lichen Rokoko etwa vom Jahre 1770. Chodowiecki
war plötzlich ein gefeierter Künstler. So kam es, daß
die Reichen der Kriegs jähre ihre Landhäuser (das
Wort „Villa" war nicht mehr feudal genug) wieder
in Rokoko einrichteten. Die Forderung nach Komfort
wird erneut erhoben und erneut verschärft, und die
Technik im Hause kommt diesem Trieb entgegen:
auch sie wird geschmeidig, geschliffen, rokokohaft.
Die Revolution findet also überfeinerte Verhältnisse
vor, ohne daß sie dagegen eingeschritten wäre. Sie
tat diesem Rokoko nichts zuleide, fand es vielmehr
international und somit statthaft. Also auch in diesem
Zusammenhang war von einem Verzichtsideal, das in
einem wahrhaft sozialen Staat hätte aufgerichtet wer-
den müssen, keine Spur zu finden. Statt dessen durch-
setzte man das Rokoko, das man vorfand, mit goti-
schen und expressionistischen Elementen, von denen
die ersteren aus der großen Baukunst, die letzteren aus
dem Kehricht der bildenden Künste hervorgesucht
wwden und gelangte auf diesem Wege zu einem
höchst paradoxen Stil, der süß, krank und narkotisch
allzusehr auf den Augenblickseffekt ausgeht, als daß man
ihm noch längere Lebensdauer prophezeien könnte.

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