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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 76.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.7093#0196

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rationalistische Bausystem der Gotik ausgebildet hatte,
das es mit seinen Arenen und Brücken der Provence un-
mittelbar an die römische Architektur sich anschließt. Im
19. Jahrhundert war alles vergessen, was nicht Louis XV.
oder Louis XVI. hieß und die Bourgeoisie glaubte nicht
anders als in den Dekorationen des sonst so verachteten
Königtums leben zu können. Der Jugendstil war das letzte
groteske Aufflackern der Rokokoornamentik, jener selt-
samen Verschmelzung von Naturalismus und linearem
Manierismus, die durch die Pariser Weltausstellung über
ganz Europa verbreitet wurde und in ihrer Eleganz be-
sonders die halbentwickelten Völkerschaften des Balkans
bestach.

Heute, güt ein Vierteljahrhundert nach Deutschland,
beginnt sich Frankreich des unwahren Kunstgewerbes des
19. Jahrhunderts zu schämen und die Geschichte zu ver-
leugnen. Der Esprit nouveau protestiert gegen die Nach-
ahmung des Vergangenen und des Exotischen, des Primi-
tiven und des Ostasiatischen und will eine angewandte
Kunst ohne Dekoration und ohne Ornamentik. Die Ma-
schine, so argumentiert Le Corbusier, der Wortführer der
neuen Generation, dieses moderne Phänomen bringt eine
Reformation des gesamten europäischen Geistes hervor.
Der Lauf der Gestirne, das Wachstum der Pflanzen, sie
folgen den ewigen Gesetzen von Ursache und Wirkung
und die Maschine stimmt mit ihnen darin überein. Warum
der Mensch in seinen Gebrauchsgegenständen nicht? War-
um das Kunstgewerbe nicht? Der Krieg hatte es mit
einem Schlage bewirkt, daß der bombastische Barock der
farbigen Phantasieuniformen verschwand und der schlich-
te, knappe feldgraue WafFenrock an seine Stelle trat, bei
Offizier und Soldat, Freund und Feind, die Millionen
aller Länder und Weltteile folgten demselben Rhythmus
und demselben Gesetz der mechanischen Anpassung an
das Notwendige. Le Corbusier erinnert auch an die Be-
deutung des Eiffelturmes. 1889 war er der revolutionäre
Ausdruck der neuen Rechnung in Konstruktion und Ma-
terial. 1900 wollten ihn die Ästheten abbrechen. 1925 do-
minierte er symbolhaft die Ausstellung der dekorativen
Künste und erschien moderner und lebendiger als die
meisten ausgestellten Gegenstände. Die Gegenwart ist
Sachlichkeit. Alle Menschen sind einfach und gleichmäßig
gekleidet, noch mehr, sie sind fast nackt: bei der Arbeit,
beim Spiel, beim Sport. Der Körper ist wesentlicher als
das Klejd oder gar das Kostüm. DerMensch will endlich das
Narrenkleid, das ihm so schlecht steht — herrlich die Zei-
ten, die es tragen konnten, ohne lächerlich zu werden —
ausziehen und sich seiner Antiquitäten, Stilmöbel, Salon-
draperien entledigen, selbst Frankreich will es, das bis
jetzt am zähesten daran gehangen hat. Die Täuschung
liegt schon im französischen Wort: l'art decoratif. Die
Kunst des Alltags soll nicht dekorieren, sondern sie soll
bequem und nützlich sein. Nur das Kunsthandwerk, das
durch seine Funktion das Leben erleichtert, hat heute eine
Berechtigung. Die praktischen Möbel, die besoins-types
der Comptoirs, Krankenhäuser etc. müssen in alle Häuser
eindringen und die falsche, ungesunde, staubige Bürger-

ausstattung verdrängen. Lebe wie die Maschine und be-
diene dich ihrer technischen Überlegenheit, Sicherheit
und Bequemlichkeit. Turbinen Autos und Flugzeuge haben
uns eine neue Schönheit gebracht, die man als den Stil
der Gegenwart bezeichnen kann. Das Kunstgewerbe muß
von der Technik lernen. Die Epoche der Maschine hat
begonnen. Natur und Weltall sind das Vorbild der Ma-
schine.

Versunearchitectur. Der neue Geist bleibt nicht
beim Kunstgewerbe stehen. Die Ästhetik des Ingenieurs
und Maschinenbauers schreibt auch der Baukunst ihre
Gesetze vor und es sind schließlich nur die Gesetze aller
guten, alten Baukunst, der Pyramiden, Tempel und Aquä-
dukte. Zuerst die Baukörper: sie müssen geometrisch ein-
fach sein und mit einem Blick erfaßt werden können. Dem
Körper entsprechen Grundriß und Aufriß: sie sind funk-
tionell miteinander verbunden und beschränken sich auf
das Notwendigste. Darin unterscheidet sich der moderne
Ingenieurarchitekt nicht von Bramante oder Raffael.Schiffe
sind Maschinenhäuser: ihnen müssen die neuen Land-
architekturen gleichen, denn sie sind aus der Notwendig-
keit des Lebens entstanden. Wie geschmacklos die meisten
neuen Architekturen in Paris gegenüber einem Flugzeug
oder einem schönen Auto. Baut die Häuser wie die Ma-
schinen. Das antike Rom besaß jene plastische Ordnung
der Stadtanlage und der Gebäude, die unsere Gegenwart
wieder zu erreichen sucht. St. Peter von Michelangelo ist
die Vollendung des Geometrisch-Plastischen in der Bau-
kunst.

Die neue Epoche wird die Häuser in Serien industriell
herstellen. Ein Ford des billigen Wohnens muß kommen.
Ordnung, Reinheit der Konstruktion, Licht, Sauberkeit
werden den Wohnkolonien ein künstlerisches Aussehen
geben. Corbusier gibt sehr phantasievolle, überraschend
logische Skizzen und Entwürfe zu neuen Siedlungen mit
Serienhäusern, die auf engstem Raum alle Schönheiten
und Bequemlichkeiten eines freien Wohnens vereinigen.
Wo ist der Sozialminister, der solche billigen Serienkolo-
nien anlegt und damit die Wohnungsnot der Großstädte
beseitigt.

Urbanisme. Die Aufgaben schreiten weiter, vom
Gebrauchsgegenstand zum Haus, vom Haus zur Stadt.
Kommen die Millionen der Großstädte in Bewegung, dann
entsteht das Problem: Verkehr und es kann nur gelöst
werden durch die richtige Planung der Straßen und Plätze:
auch hier Einfachheit, Ordnung, Gesetz. Die Architekten
des 17. Jahrhunderts besaßen die große Ökonomie der
Anlage von Plätzen und das 18. Jahrhundert verbreitete
ihre Kunst über ganz Europa. Karlsruhe, Mannheim, Bath,
Washington sind die frühen Muster klarer, geordneter
Städteanlagen. Ägypten, Persien, China besaßen die Städte-
typen, die auf einer großzügigen Komposition geräumiger
Rechtecke beruhten. Die mittelalterliche Stadt ist eine
Zelle, die sich grundsätzlich nicht von einem Zeltlager
der Nomaden unterscheidet. Die modernen Menschen-
ansammlungen erfordern aber städtebauliche Konstruk-
tionen, die ebenso rationell und maschinell funktionieren

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