Vom Besprechen.
Als zufällig einmal im Unterricht das „Besprechen" erwähnt
wurde, und ich zur Begrifsserklärung fragte: „Hat sich schon einer von
Euch besprechen lassen?", standen überraschend alle Kinder auf. Doch
sofort bereuten es einige Kinder offensichtlich, daß sie sich gemeldet
hatten, denn da ich nun aufforderte: „Erzähle!" und ein jüngeres Kind
offenherzig begann, erhielt es sofort von einem größeren Kinde, das
hinter ihm saß, einen kräftigen Stoß in den Rücken.
Dieser Stoß, begleitet von den Worten „Wä's still!" brachte das
erzählende Kind und auch die übrigen zum Schweigen. Alles gütliche
Zureden nützte nichts mehr, die Kinder blieben stumm. Das ältere Kind
hatte nur der Meinung der Elternhäuser, daß dies Dinge sind, die den
Lehrer nichts angehen und die er nicht zu wissen braucht, Achtung ver-
schafft. — Da ich vorher bereits einen ähnlichen Vorfall bei einer dörf-
lichen Geburtstagsfeier erlebte, und auch dort auf meine Nachfrage
eisiges Schweigen einsetzte, fühlte ich, daß sich hier eine tiefe Eefühls-
und Anschauungswelt andeutete, die mir verschlossen war. Dabei han-
delte es sich nicht nur um das Besprechen. Auch bei der Geburt, bei
Krankheits- und Todesfällen, bei Antritt eines Dienstverhältnisses, bei
der Bestellung des Gemüsegartens usw., gibt es Dinge, die einem nie
gesagt werden (oft auf direkte Anfrage nicht), die man einfach weiß
oder nicht weiß. Aber, und das ist das Entscheidende, man muß diese
Dinge und ihre tiefe Verankerung in einer feinfühligen Gedankenwelt
erkennen und entsprechend werten, wenn man nicht im kleinen dörf-
lichen Lebenskreis durch Nichtbeachtung Verärgerung und Unwillen er-
wecken will. Eine Bitte um Aufklärung oder eine Nachfrage wirken
oft schon verletzend; es wird wenigstens so empfunden. Mag der Dorf-
bewohner auch sonst noch so derb im Ausdruck und durch seine harte
Lebensarbeit mit Acker und Vieh noch so verhärtet sein, in diesen Din-
gen ist er ungeheuer feinfühlig. Sein Inneres offenbart er nur und
sein volles Vertrauen schenkt er nur dem, der seinen Eigenarten und
Gewohnheiten, die er manchmal selbst als Schwächen erkennt und ein-
gesteht, mindestens Verständnis entgegenbringt.
Das „Besprechen" wird hier „Stillen" genannt. Augenblicklich üben
es in der Ortschaft (95—100 Einwohner) zwei ältere Frauen für fremde
Personen aus. Für den Eigenbedarf in der Familie wenden es zahlreiche
weitere Personen bei leichteren „Fällen" (Warzen usw.) an. Man beruft
sich auf das Bibelwort: „In meinem Namen werdet Ihr Hand auf-
legen ..." Ganz energisch vertritt man die Ansicht, daß es „im Namen
Gottes" geschieht. Man kann die „Kunst" oder „Kraft" des Besprechens
(Stillens) immer nur vom anderen Geschlecht erlernen: eine Frau vom
Manne, ein Mann von einer Frau. — Es geht nur an den Wochen-
tagen mit der Endsilbe „tag", nicht am Mittwoch oder Sonnabend.
Eine Frau „stillt" beim Mond: abnehmenden, zunehmenden oder Voll-
mond, je nach Krankheit. Die andere Frau richtet sich nicht nach den
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Als zufällig einmal im Unterricht das „Besprechen" erwähnt
wurde, und ich zur Begrifsserklärung fragte: „Hat sich schon einer von
Euch besprechen lassen?", standen überraschend alle Kinder auf. Doch
sofort bereuten es einige Kinder offensichtlich, daß sie sich gemeldet
hatten, denn da ich nun aufforderte: „Erzähle!" und ein jüngeres Kind
offenherzig begann, erhielt es sofort von einem größeren Kinde, das
hinter ihm saß, einen kräftigen Stoß in den Rücken.
Dieser Stoß, begleitet von den Worten „Wä's still!" brachte das
erzählende Kind und auch die übrigen zum Schweigen. Alles gütliche
Zureden nützte nichts mehr, die Kinder blieben stumm. Das ältere Kind
hatte nur der Meinung der Elternhäuser, daß dies Dinge sind, die den
Lehrer nichts angehen und die er nicht zu wissen braucht, Achtung ver-
schafft. — Da ich vorher bereits einen ähnlichen Vorfall bei einer dörf-
lichen Geburtstagsfeier erlebte, und auch dort auf meine Nachfrage
eisiges Schweigen einsetzte, fühlte ich, daß sich hier eine tiefe Eefühls-
und Anschauungswelt andeutete, die mir verschlossen war. Dabei han-
delte es sich nicht nur um das Besprechen. Auch bei der Geburt, bei
Krankheits- und Todesfällen, bei Antritt eines Dienstverhältnisses, bei
der Bestellung des Gemüsegartens usw., gibt es Dinge, die einem nie
gesagt werden (oft auf direkte Anfrage nicht), die man einfach weiß
oder nicht weiß. Aber, und das ist das Entscheidende, man muß diese
Dinge und ihre tiefe Verankerung in einer feinfühligen Gedankenwelt
erkennen und entsprechend werten, wenn man nicht im kleinen dörf-
lichen Lebenskreis durch Nichtbeachtung Verärgerung und Unwillen er-
wecken will. Eine Bitte um Aufklärung oder eine Nachfrage wirken
oft schon verletzend; es wird wenigstens so empfunden. Mag der Dorf-
bewohner auch sonst noch so derb im Ausdruck und durch seine harte
Lebensarbeit mit Acker und Vieh noch so verhärtet sein, in diesen Din-
gen ist er ungeheuer feinfühlig. Sein Inneres offenbart er nur und
sein volles Vertrauen schenkt er nur dem, der seinen Eigenarten und
Gewohnheiten, die er manchmal selbst als Schwächen erkennt und ein-
gesteht, mindestens Verständnis entgegenbringt.
Das „Besprechen" wird hier „Stillen" genannt. Augenblicklich üben
es in der Ortschaft (95—100 Einwohner) zwei ältere Frauen für fremde
Personen aus. Für den Eigenbedarf in der Familie wenden es zahlreiche
weitere Personen bei leichteren „Fällen" (Warzen usw.) an. Man beruft
sich auf das Bibelwort: „In meinem Namen werdet Ihr Hand auf-
legen ..." Ganz energisch vertritt man die Ansicht, daß es „im Namen
Gottes" geschieht. Man kann die „Kunst" oder „Kraft" des Besprechens
(Stillens) immer nur vom anderen Geschlecht erlernen: eine Frau vom
Manne, ein Mann von einer Frau. — Es geht nur an den Wochen-
tagen mit der Endsilbe „tag", nicht am Mittwoch oder Sonnabend.
Eine Frau „stillt" beim Mond: abnehmenden, zunehmenden oder Voll-
mond, je nach Krankheit. Die andere Frau richtet sich nicht nach den
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