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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 14 (2. Aprilheft 1909)
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Göhler, Georg: Georg Friedrich Händel
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0103
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Sollen wir dnrum nicht alles daransetzen, um die heilsame Wirkung
solcher Kunst auf unsere Zeit mit allen Mitteln und Kräften zu steigern?
Wie sind alle ihre Werte vom einzelnen Kunstfreund und von der
Gesamtheit zu gcwinnen und ihnen daucrnd zu erhalten?

Durch Verwertung des fast unerschöpflichen Materials, das ciner der
grötzten deutschen Idealisten, eincr der zähesten Arbeiter im Lande der
Kunst, Fricdrich Chrhsander, den Deutschen erschlossen hat. Dic hundert
Foliobände seincr Händcl-Ausgabe sollen nicht in Bibliotheken verstauben,
sondern zum Leben erweckt neues Leben spenden.

Die größte und dankbarste Aufgabe bleibt unsern Chorvcreinen. Nicht
nur die Oratorien, sondcrn auch die Psalmen Händels, unter denen sich
prachtvolle, kaum gekannte Stücke finden, die Tedeums usw. sind immer
wiedcr die monumentalstcn Aufgaben für Chorvcreine. Ohne in Detail-
fragen rigoros zu sein, was Händel selbst so wenig war wie Chrhsander,
sollte man sich dabei ernstlich bemühen, bei der Aufführung dieser Werke
nach der genau bekannten Praxis Händcls zu verfahren, und alle Modcrni-
sicrungen, die nicht nur für den wirklichen Kenner des Stils, sondern
für jcdcn unbefangenen Hörcr wic Verkleinerungen wirken, bleiben lasscn.

Wie man keinen Rembrandt L Is Liebermann übermalt, so keinen
Händel L la Mendelssohn oder gar L la Wagner. Fängt man einmal
zu rctuschieren an, so ist jede Grenze willkürlich gesetzt; die Geschmack-
losigkeit, die für den gröber Empfindenden erst bei ganz moderner In°
strumcntierung beginnt, empfindct dcr, der wirkliches Gefühl für die
Händelsche Monumentalität hat, schon beim geringsten Zusatz oder bcim
Vcrzicht anf wesentliche Eigentümlichkeitcn Händels.

Das sind Dinge, dic so selbstverständlich wären, wie dic Verdammung
cines überarbciteten Goethe, wcnn nicht sehr viele Musiker und Musik-
freundc jeden feineren Stilgefühls bar wären. Es ist übrigens bezeich-
nend, daß erst in dieser Händelschen Manier Werke wie Esther, Deborah,
Herakles bekannter geworden sind und daß die Wirkung solcher Auf-
führungen vielen, vielen Menschen die Furcht vor der Langweiligkeit
von Oratorien genommen haben. Mrt dcn Oratorien wird man die
Massen für Händel gewinnen, mit den Oratorien wird man aber nach
und nach auch den Sinn für kunstvollcn Sologesang wiedcr wecken können.
Man wird unsre Sänger dazu erziehen, aus den Partien in den Ora-
torien und aus Szenen dcr Opcrn wirkliche Aufgaben für charakteristische
Gestaltung von Persönlichkeiten zu machen. Sie werden wicdcr lernen,
lediglich durch ihre Gesangkunst die ticfsten Tiefen menschlichcr Empfin-
dungcn zu offenbaren und ohne von einem malenden odcr stimmung-
gcbcnden Orchcster untcrstützt zu scin, die Zuhörer im Inncrsten zu packen
und zu erschüttern oder zu rühren.

Die Fähigkeit künstlcrischen Gestaltcns wird wachsen; der Sinn für
einfache Größe und natürliche Schönheit wird lcbendigcr werden und
wird auch aus Händcls Instrumcntalmusik eine Mcnge tief empfundener,
formvollendeter Kunstwerke sich zu immcr erneutem Genusse zu eigen
machen.

Fernzuhaltcn ist bei all dieser Kunstpflege nur aller Parteigeift, aller
Hader mit Bachianern, alles Vergleichen und gcgenseitige Verkleinern.
Ist's lächerlich, im Schatten einer knorrigen Eiche zu kritteln: „Ia, aber
die Linde hat weichere Formen und duftende Blüten", ist's kindisch, am

2. Aprilheft 1909 75^
 
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