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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0212
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zu gestalten, was in ihrcr Phan-
tasie lebendig ward. Der kleine
Märchenmeister freilich fand immer
selbst das beste Wort, und nach
meiner Hilfe verlangte ihn nur
Zwcimal, als der Ausdruck ihm
nicht dienen wollte („Die leuchtc-
ten . . und einiges bei dem Stück
von den Schauspielern). So saß
ich denn nur da und schrieb, was
er erzählte. Bis er fertig war.
Aber da war er doch noch nicht
fertig, denn: „Aber anstatt um
zehu standen sie um sieben auf, und
da sagte der Käfer: ..." so fing's
von neuem an, und nun wurde
noch ein Märchen. Als die ganze
Gcschichte zu Ende war, mußte ich
sie noch einmal vorlesen, sie sollte
heißen: „Von dem Tiertheater und
vou der Tierpartie".

Ich dachte an den Lehrplan, den
einzuhalten ich verpflichtet bin:
»Die Kinder schreiben kleine Sätze
auf, wclche beim Anschauungs-
unterrichte gewonnen und an die
Wandtafel teils wörtlich, teils in
ihren tzauptteilen angeschrieben
worden sind. Diese Niederschrif-
ten erfolgen anfangs nur unter
Leitung des Lehrers in dcr Schule,
später nach gegebenen Stichwör-
tern zu tzause. In das Aufsatz-
heft ist wöcheutlich eine solche Nie-
derschrist einzutragen." Für diese
Woche war die Möglichkeit dazu
freilich wieder vorbei.

Aber im Sinne des genannten
Lehrplans, nach dem „auf der
untersten Stufe Gedanken und
Ausdrucksformcn (für dcn Aufsatz)
unter Anleitung des Lehrers genau
festgestellt werden" müssen, hätte
ich die Kinder in jener Stunde
„anleiten" müssen, einen „Aufsatz" zu
„erarbesten" wie etwa diesen: „Im
Garten. — Der Garten grenzt an
das Haus. Er ist von einem Zaun
umgeben. Im Garten wachsen
Blumen und Kräuter. Ich bin

ein Freund der Blumen. An
der Rose habe ich ganz besondere
Freude. In manchen Gärten gibt
es auch Wein. Die meisten Blu-
men blühen im Mai. Im Som-
mer ist jeder Baum voll Laub."
Dieses „Sprachstück", das vielen
die ganze Sde ihrer ersten Schul-
jahre wieder in der Erinnerung
heraufsteigen lassen wird, ist der
„Sprachschule" «ntnommen, die im
Bezirk benutzt wird, und die erst
im Iahre (st06 neu bearbeitet wor-
den ist. Das Stück charakterisiert
die Vorstellung von dcr sprachlichen
Leistungsfähigkeit und vom „Auf-
satz" Siebenjähriger, die im Lehr-
plan zur Geltung kommt, charakte-
risiert auch die sehr, sehr große
Mehrzahl der Arbeiten, die die
Aufsatzhefte der Kleinen noch heute
füllen. . . .

Hier, als Leben heischendes Leben
das Kind mst der von innen hcraus
organisch wachsenden sprachlichen
Kraft, mit dem sein ganzes see-
lisches Leben beherrschenden Drange
zu produktiver (und reproduk-
tiver Phantasiebetätigung, kurz:
das Kind als Künstler — und dort,
als gebietende Macht der grobe
Geist dcs Lehrplans, der Geist einer
kindfremden, altghmnasial gefärbten
Schule, der Geist, der da meint,
die Kindcsseele wie eine Knetmasse
bclicbig formen zu können, ihm
„die Sprache" als einen „Stoff"
Stück um Stück „beibringen" zu
können.

Der Gegensatz besteht noch
heute.

Das allein soll die geschilderte
Episode wieder einmal zum Be-
wußtsein bringen. Es kann nicht
ost genug gesagt wcrden. Denn
noch ist der Geist nicht gar tief
und weit vorgedrungen, in dem
seit alters alle Pädagogen von
innerem Beruf, und neuerdings
namentlich Anthes, Gansberg, H.

s. Maihest (stOst

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