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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0217
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zwischen zuckerbäckerhafter Süßlich-
keit und schwammiger Weichlichkeit
auf der eiuen Seite und bald
hohler bald brünstiger Aufgeregt-
heit auf der andern. Diese Leistung
hätte die Regieschule nie verlassen
dürfcn. Bleibt der Faust Kahß-
lers. Eine Erfüllung bedeutct auch
er nicht. Das eine aber ist gewiß:
einen deutscheren Faust als diescn
wird man auf der deutschen Bühne
kaum noch finden. Die ersten
Szencn, da, wo Faust so leiden-
schaftlich schwer mit sich selber
ringt, wo sein aufwärts strebender
Fittich sich gegen das dumpfc
Grüblertnm stemmt, überholt so
leicht keiner, auch wenn das schau-
spielerische Genie ihn mit dreifach
so glänzenden Temperamentsgabcn
bedacht hättc. Hier ist jedes Wort
durchfühlt, durchlebt, durchlitten,
unter jauchzenden Freuden oder
martcrnden Schmerzen neugcborcn.
Aber leider erhellt sich dieser
Menschheitsfluch nicht, als aus dem
Denker und Grübler der beherzte,
heiter aufgeschlossene Liebhaber
werden soll; auch in den Gretchen-
szenen schatten und lasten die dunk-
len Flügel des Schicksals über
diesem schon in der Maske viel
zu düstern Haupt. Neben solchem
Mangel an Beweglichkeit will es
wenig bedeuten, wenn die Wand-
lung des alten in den jungen
Faust auf diese Art leichter glaub-
haft erscheint. Lieber zwingen wir
uns zu dem Wunderglauben an
den Berjüngungstrank der Heren-
küche, als daß wir uns von dem Welt-
schmerzler Faust die schwcbendc
Poesie der Gretchenszenen erdrücken
lassen. War es hier nur die gei-
stige Fülle, die wir vermißten,
so war es bei Schildkrauts Me-
phisto der Mangel an all und
jedem geistigen Wuchs, der um
so cmpfindlicher enttäuschte, je
wildcr man diese geistige. Anmut

von allerlei witzigem Hokuspokus-
kram übersponnen sah. Auch Paul
Wegeners Mephisto kam nicht recht
vom Boden cmpor; er kroch mehr
als er schritt; er war das Tier,
das sich mit Wonne in Staub
und Dreck wälzt. Aber dennoch:
diese aus dem Schoß der kreisen-
den Erde gcborene Gestalt hatte
einc gcwisse Größe, wäre es auch
nur die der Konsequenz in der
Gemeinheit. Bergebens sah man
sich nach dem Kavalier nm; We-
geners Mephisto schraubte sozu-
sagen Goethes „Faust" von s808
um ein Vierteljahrhundert in seiner
Entwicklung zurück: er gab den
Diencr des Erdgeistes, als den noch
dcr Ar-Faust die Gestalt fast aus-
schließlich nimmt.

Lauter Teile und Unzulänglich-
keiten — wo bleibt das Ganze?
Zuviel für dich, Gretchen, diesc
Bruchstücke alle zu übcrleuchten,
allein durch dein Da-Sein, durch
deine Einfalt, durch deine licbe
stille Natur. Denn weitcr darfst
du doch nichts geben, zumal wenn
du Lucic Höflich heißt. Dicse Lei-
stung ist dcshalb so groß, weil sie
im ersten Teil ihrer Aufgabe uur
das Es in sich spiclen läßt, das
Persönliche ganz zurückdrängt hin-
ter das Typisch-Volkstümliche, da-
für aber dann in dem Monolog
„Meine Ruhe ist hin", mehr noch
in der Zwingerszene dieser Selbst-
verständlichkeit dcn Stil der Größe
fiudet uud in dcr Kerkerszene cnd-
lich, immer noch sich steigernd, zur
markerschütternden Tragik au^steigt.
Diese nirgends ncue, nirgends
übcrraschende, sondern nur die
besteu alten Gretchen-Gestaltungen
mit neugeborner Empfindungstiefe
ncu bestätigende Leistung ist gewiß
wertvoll — aber ist sie, einsam in
ihrer Vollcndung, für dcn ganzen
Faust, für den ersten und den zwei-
ten Teil bcdeutsam genug, um die

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