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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 17 (1. Juniheft 1909)
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Die Lärmfrage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0327
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als Störung oder nicht. Beispielsweis: Nicht nur schlechtes Klavier-
spiel stört bekanntlich viele Lente, sondern auch gntes, nämlich, wenn
es sie von ihrer Arbeit abzieht. Mit dem Hinweise darauf, daß
viele Geräusche an sich schön sind oder reiche Assoziationen herauf-
sühren können, ist also an und für sich noch nichts zur Sache gesagt.
Was mich erfreut, wenn ich „Zeit habe", wenn ich ihm zuhören darf,
kann mich zu anderen Zeiten belästigen. Es gibt auch verschiedene
Arten mit Lust oder mit Nnlust betonter Störung. Der Begriff „Stö-
rung" überhaupt bedeutet aber: Abziehen von meiner Beschäftigung,
Beeinträchtigung meiner persönlichen Freiheit.

Und da wir alle Arbeitsmöglichkeit und persönliche Freiheit er-
streben, so sind wir wohl alle darüber einig, daß sie nicht ohne
Grund beeinträchtigt werden sollten. Darüber, daß sich jeder mit
Geräuschen abfinden muß, wo sie sich nicht vermeiden lassen, sind
wir's auch. And so scheint es fast, als ständen die Lärmverteidiger
und die Lärmgegner eigentlich ganz nah beieinander. Was das Pri» -
zip betrifft, gilt das vielleicht, soweit man sich hüben und drüben
die Mühe gibt, überhaupt mal der Sache nachzudenken. Aber hin-
sichtlich der Anwendung des Prinzips, hinsichtlich der Diagnose
des einzelnen Falls und hinsichtlich seiner Behaudlung, d a gilt es
nicht. Das Fazit eines Aufsatzes wie des Müllerschen wäre eigentlich:
ihr Lärmer lärmt weiter, lärmt, wenn es ausdrucksvoll klingt noch
mehr, und ihr Hörer, gewöhnt euch daran, denn dieses Lärmende da,
das ist die Kultur. Die andern jedoch seheu leider allerhand Weuu
und Aber.

Zunächst unterscheiden wir zwischen Z i v i l i s a t i o n und Ku l tu r.
Neiu, sagen wir: dieses Lärmende da ist die Zivilisation. Auch die
hat ihre großen, ihre gewaltigen, ihre unüberschätzbaren Werte, deren
Tönen und Dröhnen zu lauschen erhebende Freude bringen kann. Sie
ist unentbehrliche Verbündete der Kultur. Aber zu befehlen hat
diese. Und ihre Herrschaft ist erst erreicht, wo die Zivilisation alle
Kulturkräfte fördert, wo sie nicht hemmend in die Entwicklung der
leiseren Werte eingreift, die deshalb keine kleineren Werte sind: der
Werte des arbeitenden Gehirns. Die haben ja auch die Werte der
Zivilisation erst geschaffen, und sie schaffen täglich noch an ihnen.-

Ferner betonen wir: es bekämpft ja kein Mensch die Geräusche,
die nicht vermieden werden können. Sondern es handelt sich um
eine Bewegung gegen die entbehrlichen Lärme oder Lärmstärken.

Fragen wir nun: wer wird durch den Lärm gestört? Ilnd sehen
wir dabei, hübsch hartherzig, zunächst einmal auch von den humani-
tären Rücksichten gegen die Kranken ab, sogar davon, ob ihre Ge-
sundung, welche die Sorge für sie wieder auf ihre eignen Schnltern
legt, nicht von überflüssigem Lärmen aufgehalten wird! Fragen wir
nur nach denen, die arbeitsfähig und damit „nützliche Glieder
der Menschheit" sind.

„Hier stutz ich schon" — denn arbeitsfähig und gesirnd ist ja nicht
dasselbe. An und für sich bedeutet hohe Empfindlichkeit gegen Ge-
räusche ja nur eine erhöhte Feinfühligkeit, die sogar bloß örtliche
„Ohrensache" sein kann. Sind denn aber sogar „ausgesprochene Nerven-
menschen", sind nicht selbst „Neurastheniker", denen man's auf drei



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