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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0456
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noch goldne Töne gegen das
Schnattern und Kreischen der
Gänse, die uns bei einer Wande-
rung übcr Dorf und Land den
Weg sperren. Welch ein Abstand
zwischen solchen Tönen und den-
jenigen der süßflötenüen Nachtigall;
abcr auch wie viele und wie man-
nigfache Abergänge gibt es von den
niedersten zu den höchsten Stufen
der Vogelkunst!

Auf ganz ähnlich verschiedenen
Stufen dcr Kunst stchen die ver-
schiedenen Völker und Stämme des
Menschengeschlechts. Behalten wir
dies im Auge, so können wir schon
einmal von höherer Warte einen
ctwas ticfer eingreifendcn Vergleich
der Kunst der Vögel mit derjenigen
dcr Menschen wagen, dcr zu höchst
überraschenden Ergebnissen führt.

Und weiter. — Wir haben schon
einige Male auf gewisse Vogcl-
stimmen mittcls Silben hingcwie-
sen, deren Bestandteile unsrer
Sprache «ntnommen sind, freilich
ohne daß wir dabei behauptcn wol-
lcn, daß wir die Vogelwörter ganz
genau wiedergegcben hätten. Nur
wenige Vögel bringen nahezu ganz
rcine Pfeiftöne hcrvor; in dcn
meisten Fällen hört man dancben
lautliche Elemente im Gesang, dic
dcn Lauten unsrer Sprache außer-
ordentlich nahekommen, wahrend
sich andre — aus ganz natürlichen
Gründen — ost so weit davon
entfcrncn, daß man sich versucht
fühlen möchte, cine Phonetik der
Pogelsprache zu schreiben. Auf
alle Fällc lohnt es sich für jcden
Naturfrcund, auch einmal auf die
lautlichen Veimischungen im Vogel-
gcsang zu achten.

Aber noch aus einem etwas
tiefer liegenden Grunde sollte man
au dem Vogelgesang nicht acht-
und gedankenlos vorübergehen; bil-
det er doch das wichtigste Aus-
drucksmittcl, die Sprache dcr be°

2. Iunihcft l909

fieüerten Sänger. Zwar findet
man bei ihnen nebenher die Gc-
bärdensprache, die sehr viel An°
ziehendes bietet, doch herrscht die
Tonsprache bei weitem vor. Lie-
besfreude und Liebesnot, Angst,
Schmerz und Schreck und all die
sonstigen Regungen der kleinen
Vogelherzen finden durch sie be-
redten Ausdruck.

Hat sich das Ohr etwas an die
Vogelstimmen gewöhnt — denn eine
genaue Beobachtung und Analy-
sierung erfordcrt wegen ihrer meist
recht hohen Lage, wegen dcr oft so
großcn Schnelligkeit des Vortrags
und des Wechsels der Motive,
und auch noch aus verschicdencn
andern Gründen eine gewisse
Abung —, so entdeckt es sehr
bald Töne und Tonverbindungen,
die — falls man in der Literatur
dcr menschlichen Tonkunst etwas zu
Hause ist — an dieses oder jenes
Motiv unsrcr großen und größtcn
Meister erinnern. Da erkcnnt man
zum Beispiel plötzlich, daß der Gc-
sang des Waldvogels im „Sieg-
fricd" aus mehreren der Natur ab°
gclauschten, aber mit echt Wagner-
scher Genialität verklärten Vogel-
motiven bcsteht; ebenso begcgncn
ivir in dcn übrigen Werken Wag-
ners mancher natürlichen Vogcl-
mclodie. Aber auch zahlreichc andre
Komponisten älterer und neuerer
Zeit haben Vogelmotivc in ihre
Werke eingeführt und ihnen im
Tempel der Kunst cin gcwcihtcs
Plätzchen angewiesen.

Wir mcinen, dic wenigen Bci-
spiele, die wir leicht um hunderte
vermehren könnten, bietcn wahrlich
der Gründe genug, die uns ver-
anlassen können und sollen, recht
fleißig auf dcn Gesang unsrcr
Vögel zu lauschen, — immer und
überall, als Mensch, als Natur-
und als Musikfreund! Aber zum
Schluß noch einen Rat: man be°

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