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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0079
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die Welt als Ganzcs an. Imnier
gab es Menschen, die wissen wollten,
wie denn die Sterne, deren Gang
so regelmäßig ist, mit dem Leben
der Menschen zusammenhängen, sie
wollten wissen, ob nicht auch der
Körper ähnlich einfache Proportio-
nen, wie ein Dreieck oder irgendein
einfachcr geometrischer Körper anf-
weise. Amd so wurden immer wie-
der Versuche gemacht, die Ordnung,
die man in der Astronomie, in der
Mathematik angetroffen hatte, auch
auf die übrige Welt zu übertragen.
Waren diese Versuche auch verfrüht
und vielfach überaus roh, so ließen
sie im Menschen doch den Trieb
nie erkalten, alles zn begreifen,
und so viel wie möglich zu be-
herrschen.

Die Erkenntnis dcr Menschen
machte so Fortschritte; was man
erst nur ganz unbestimmt ersehnte,
die Wclt in ein geordnetes Ganzes,
in einen Kosmos umzuwandeln, ge-
lang immer mehr, freilich auf andern
Wegen, als man ehedem vermeint
hatte. Man lernte die Phhsik, die
Chemie in ähnlicher Weise be-
handcln, wie ctwa die Astronomie.
Man begann Körper zu erzeugen,
die früher entweder die Natur uns
geschenkt hatte oder der Zufall eines
phantastischen Alchimisten. Nicht
mchr geniale Einfälle allcin beherr-
schen die Chemie, man konnte nun
einen großen Teil der früheren
Kunst erlernen. Vieles in dcr Natur
ist heute schon unsrer Herrschaft
unterworfen, und es wird wohl eine
Zeit kommen, in der wir das Wetter
ebenso beherrschen, wie den elek-
trischen Strom. Aber wir beherr-
schen noch wenig das menschliche
Zusammenleben. Wir können zum
Beispiel auf dem Gebicte des Han-
dels zwar schon viele Wirkungen
willkürlich erzeugen, hingegen habcn
wir Armut und Reichtum noch nicht
genügend in unsrer Hand. And wenn

wir anch hoffen können, daß gerade
dies Gebiet bald wissenschaftlich be-
herrscht werden wird, so gibt es
daneben noch eine Fülle von Fra-
gen, zn denen uns wohl noch lange
die Antworten fehlen werden. Wir
wissen zum Beispiel nicht, wie man
ein Volk dazu bringt, daß es bessere
Triebe erzeuge, daß es edleren We-
sens werde. Während die einen
meinen, Anterricht und Erziehung
seien ausreichend, erklären andere,
gerade diese seien verhältnismäßig
bedeutungslos, auf die Vererbung
komme alles an. Ein dritter wieder
meint, auch das sci nicht allzu wichtig,
vor allcm müßte man Mittel und
Wege finden, künstliche Begeisterung
in großen Massen zu erzeugen, wie
etwa zur Zeit der Kreuzzüge, zur
Zeit der großen Revolution. Nur
in der Ekstase könne eine innere
Wandlung vor sich gehn. Man
müsse daher die Bedingungen nnter-
suchen, unter denen solche Erschei-
nungen zustande kämen. Während die
einen behaupten, daß sich aus der
Betrachtung der Geschichte allge-
meine Regeln für die Entwicklung
der Völker finden ließen, so wie
man Regeln über das Verhalten
der Lebensalter habe, so sind andere
der Meinung, daß die Betrachtung
des Einzelmenschen ausreiche. Erstere
meinen, man müsse vergleichende
historische Studien treiben, um zu
erfahren, in welchem Stadium sich
unser Volk befinde, um die rich-
tige Methode anzuwenden, damit es
uns nicht etwa gehe, wie einem
PLdagogen, der einen erwachsenen
Menschen nach den Regeln erziehen
wolle, die für unmündige Kinder
aufgestellt wurden.

Mit diesen und ähnlichen Fragen
beschäftigt sich jetzt ein Kreis von
wissenschaftlichen Forschern, die man
häufig unter dem gemeinsamen Na-
men der Soziologen zusammenfaßt.
Ihren Kreisen gehören auch die

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