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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 3 (1. Novemberheft 1909)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0213
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reinzuwaschen, indem ich ihr alle Leiden und Verdrietzlichkeiten unsrcs
Dienstes schilderte und nrich mit rechter Abertreibung als cin geplagtes
und bedauernswertes Geschöpf hinstellte. Dabei verfiel ich unversehens
in einen allerliebsten Cancan, unter welchem dem Sonnenkönig und
seinem ganzen Hofe n-icht übel die Ohren geklungen haben mögen. Von
dcr Heirat des Königs mit der Witwe des Komödicnschreibers fing ich
an, und wie das Lebcn am Hofe drückend geworden sei seit dem unseligen
Tage; wie Ludwig immer strcnger und engherziger würde, wic alle Freuden
vom Hofe zu fliehen schienen, und wie es längst kein Theater mehr gäbe
in Versailles und von Musik nur die langweiligste; wie wir Pagen nun
bald so tugendhaft leben müßten wie die Damen von St. Chr, die das
prüde Wcib sich nach seinem Sinne erzog, und wie doch der König selbst
in unserm Alter nichts weniger als klösterlich gesinnt gewesen wäre.
Lndlich führte ich gar noch den sophistischen Schlusz unsrer Kapitäne
ins Feld, daß wahre Tugend eine solche Sittenparadc verschmähen und
reinen Frohsinn nicht knechten würde — und schwatzte so fort, Wahres
und Anwahres, Dazugehöriges und Anzusammenhängendes, allen Klatsch
der Gesindestuben, worin ich so bewandert war — und gottlobl dasz die
lärmenden Straßen von Paris keine Ohren hatten, zn hören, und keinen
Mund zum Weiterplaudcrn! Meine Bcgleiterin indes schien ein ge°
wisses Interesse an diescr Art von Unterhaltung zu finden, denn sie
fragte mich kreuz und quer aus, besouders nach dcm Familicnleben des
Königs und aller Hoflcute, nach der Sittsamkeit dieser oder jener großen
Dame, auch nach ihrem Verhältnisse zu ihren Kindcrn und wie letztcre
etwa erzogcn würdcn. Dazu machte sie die wunderlichsten Gcsichter, bald
kalt und grimmig wie vorher, bald wieder traurig und sorgenvoll, und
endlich sagte sie, indem sie seufzend stehenblieb: „So ist also auch auf
Könige kein Verlaß, und die Höchsten diescr Erde sind nicht bcsser als
die Geringsten! Und doch sagt Pascal, daß wir die Könige als gesalbte
Stellvertreter Gottes ansehen und verehren sollcn!" Als sie den ver-
rufenen Namcn aussprach, erschrak ich und sagte: „Ihr beruft Euch da
auf einen Mann, den die heilige Kirche geächtct und als einen Irrlchrer
ertlärt hat." Sie erwiderte glcichgültig: „Er ist auch ein Irrlchrer.
Das sind sie alle, die auf das Gute im Menschen bauen. Du, kleiner
Kerl, verderbt und schmutzig wie dn bist, kannst zuverlässigere Lehren
geben als alle. O Tiere! Tiere!" Während ich noch ganz gelähmt
stand von diesen Worten, die ich nur zur Hälfte begriff, nickte sie mir
kurz zu, wandtc sich gegen den Torbogen eines Hanses, vor welchem wir
eben standen, nnd verschwand darin.

Ich schaute mir das Haus an und bcmerkte erst jetzt, daß wir unter-
dessen wirklich an dcr Ecke der Barillerie angelangt waren und daß ich
also die Person meiner gchcimnisvollen Netterin ganz richtig geschätzt
hatte. Ich war glücklich, die Langgcsuchte endlich gesehen und gesprochen
zu haben; glücklich, daß sie meincr Vorstellung von etwas Ungewöhnlichem
und Mächtigem so durchaus entsprach; zugleich aber stand ich wie ein
geschlagener Pudel vor der verschlossenen Haustür, hinter der mir das
Wunder verschwunden war, und fragte mich trübselig: „Was nun?"
Ieht, wo die Scheu vor dem Weibe verschwunden war, brannte ich vor
Verlangen, in das Haus cinzudringen, sowohl ihretwillen als um ihres
Gatten willen. Ich verfluchte meine magere Pagenbörse, die mir nicht

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