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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1909)
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Bonus, Arthur: Vom Aberglauben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0368
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entschieden verneint hätten, was sich jetzt ebenso entschieden bei ihnen
festgestellt. Es ist ein entschiedener Ansinn, die Kulturstufe nach soge-
nanntem Aberglauben bestimmen zu wollen. Entschieden ist, daß
hochbegabte Menschen dafür empfänglicher sind, als flache Hohlköpfe,
und edle Menschen, welche in innigem Zusammenhange mit der Natur
leben, weit abergläubischer sind, als schmutzige und fashionable Schlin-
gel, welche ihr Leben bloß in Kneipen, Theatern und Kaffeehäusern
zubringen und es wirklich so weit gebracht haben mögen, daß sie. .
in einer gewissen naiven Aufrichtigkeit nicht glauben können, daß
Dreckseelen, wie sie sie besitzen, zu einem ewigen Leben bestimmt
seien." („Die Käserei in der Vehfreude", 5. Kapitel.)

Wir wollen uns die freilich hübsch formulierten Ausfälle Gotthelfs
nicht weiter zu eigen machen. Aber Recht wird er in dem haben,
was er über Aberglauben und Kultur sagt. Es ließe sich darüber viel
schreiben,- wir fragen nur nach dem einen: weshalb gerade die Dichter
(wie anderseits die Religiösen) vom Aberglauben nie ganz lassen
mögen oder können.

Es liegt doch wohl daran, daß der Dichter (wie der Religiöse) stets
vom Menschen, und zwar vom ganzen Menschen ausgeht, der ganze
Mensch aber nun einmal nicht ist, wozu ihn manche machen wollen, eine
vom „gesunden Menschenverstand" oder von ciner abstrakten Vernunft
geleitete Maschine. Eine solche Maschine brauchte freilich nicht zu
ahnen, daß man vor ihrer Zeit die Dinge auf andre und sehr umständ--
liche Weise gemacht hatte. Äberhaupt vor ihrer Zeit! Die Welt be-
ginnt für sie erst mit ihr.

Aber für den Menschen beginnt weder die Welt noch auch nur
er selbst mit sich selbst. Der Mensch lebt noch heute von der Urzelle
an. Und die langen Iahrmillionen mögen ihr historisches Leben
irgendwo im Schoß der Erde oder auch auf fernen Sternen führen,
auf denen man jetzt unsre Welt sieht, wie sie vor den urlangen Zeiten
war — ihr aktuelles Leben führen sie heutigestags im Menschen.
Und alle Kreatur seufzt in ihm. Wie sollte irgend etwas, das einst die
Menschheit tiefer erregt hat, spurlos in ihm geblieben sein? Alle ihre
Götter und alle ihre Teufel leben noch in ihm. Er hat gut lachen,
wenn ihre alten Kleider ihm gezeigt werden. Wenn ihre Stimme
in seinem Herzen klingt, hört sein Lachen auf.

Es ist aber noch etwas andres hierüber zu sagen, das uns das
Gesagte näher mag verstehen lehren. Dasselbe, was Gotthelf meint,
wo er davon spricht, wie seltsam es zugehe in den Herzen, daß sie „in.
einer Stunde gläubiger seien als in einer andern".

Diese Dinge sind die Erlebnisse erhöhter Stunden gewesen. Es
hat noch nie ein Mensch eine Vision gehabt, während er seinem
Nachbarn einen Hammel abkaufte. In dunklen Nachtstunden, wäh-
rend Geschehenes und Getanes aufwachten, um widereinander zu
streiten, in Leiden, als Abschluß langer und aufwühlender Zweifel, im
Kampf um den Sinn des Lebens und Tuns ist es, daß die Götter
erscheinen.

Solche Dinge, so erlebt, zeichnen sich tief ein. Sie werden weiter
gegeben in Dämmerstunden und wachen auf in Stundcn, die sie
brauchen, wie jene Stunden, die sie fanden. Was durch die Iahr-

s. Dezemberheft G09 303
 
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