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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1927)
DOI article:
Michel, Ernst: Der Bolschewismus und die Kernfrage Europas: aus Anlaß von N. Berdjajews Schrift "Das neue Mittelalter"
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0037

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Der Bolschewismus und die bolschewistische Revolukion, die noch im Gange
ist, sind nicht „für sich" und „an sich", als System oder als Einzelgeschehen,
richtig zu würdigen, sondern nur aus dem geschichtlichen Zusammenhang der
europäischen Neuzeit: als Symptom der Krise und des Zusammenbruchs der
Welt dcr neueren Geschichte.

Das große Thema der neueren europäischen Geschichte war: Freiheit und
menschliche Selbstbestimmung — „Humanismus". Dieses Thema war gegen-
über dem Mittelalter mit Recht gestellt worden, insofern es um die Be-
freiung von kirchlichen und weltlichen Zwangsinstitutionen ging, die unhalkbar
waren. Von hier aus gesehen istdieFreiheikdesGeistesund des
Gewissens mit all ihren seelischen Verfeinerungen, die sie gebracht haben,
eine unverlierbare Errungenschaft der Neuzeit, auch für die Zukunft. Aber
die Rkeuzeit hat LroHdem das Freiheitsproblem falsch gelöst: nämlich
i n d i v i d u a l i st i s ch, als formales Recht jedes Menschen auf Selbstbe-
stimmung und als Aukonomie aller kulturellen und sozialen Sphären.

Anf dic notgedrungene Frage: „Wofür, in wessen Namen soll sich die
Befreiung vollziehen?" — hat der neuzeitliche Geist keine Antwort gewußt.
Er hat der Freiheit kcinen bindenden Jnhalt, kein Ziel zu geben vermochk.
Denn Freiheit „im Namen des Menschen" ist keine Antwort; der
Mensch kann nicht des Menschen Ziel sein.

Die neuzeikliche Lösung des Freiheitsproblems im Siime des individualistischen
Humanismus führte zur Auflösung des Lebensganzen: zur sozialen
Atomisierung, zur Trennung der Lebensgebiete voneinander, zurAuflösung
schließlich auch des echten persönlichen Lebens. Die als Ersatz
auftretende organisatorisch-mechanistische ZusammenseHung der Akome zu Inter-
essengruppen aller möglichen Art — die moderne „Vergesellschaftung" — ist
nur dicKehrseike der atomistischenZerseHung und bleibt ihrwesenhaftverhaftet;
so auch der westliche, marxistische Sozialismus. Die Neuzeik hat einfach die
freigeseHLen und sich selbst bestimmenden kulturellen und sozialen Sphären sich
ausleben lassen. Sie hat eine gegenstandslose Kultur und eine gegen-
standslose Gesellschaft geschaffen, die nicht wußte und nicht weiß, i n
wessen amen sie existiert. Schließlich hat das abgelöste und sich selbst-
bestimmende Wirtschaftsleben die Vorherrschaft über das ganze Leben der
europäischen Gesellschaft erlangt und im ig. Iahrhunderk auch den einst so
souveränen Staat zum Büktel seiner imperialistischen Tendenzen gemachk. Ilnd
dieser Säkularisierung aller Lebensgebiete durch ökonomisches Denken und
Handeln ist auch heute noch kein Einhalt geboten.

In der katastrophalen Endzeit dieser Epoche leben wir: rationalistische Bil-
dung, Individualismus, Humanismus, Liberalismus, Demokratie, istkational-
staat, imperialistische Politik, kapitalistisches Wirkschafkssystem, Klassenkampf
— alles dies stehk heute in der endzeitlichen Krise.

Greifen wir als Beispiel die Demokratie heraus. Die moderne Demokratie der
alten TLelt ist wesensmäßig formal: sie erklärt den Volkswillen für sou-
verän, aber sie weiß nicht und will nicht wissen, i n w e s s e n N; a m e n der
Bolkswille sich äußert; sie will nicht und vermag nicht den Volkswillen einem
höheren, inhaltlichen Ziel unterzuordnen. Sie besiHL keine Kriterien zur Be-
stimmung der Dualität des Volkswillens, zur Ünterscheidung der Echtheit

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