xxxn.
Das neue Denken
Von Hermann Herrigel
I.
O^on ernem neuen Denken zu sprechen, ist nur in einem ganz bestimmken
^^Sinne möglich: im VerhälLnis zum Gestern. Allgemein, in formaler
HinsichL, also zeiLlos angesehen, gibL es kein neues Denken. DamiL ist nun
eigenLlich schon das WichLigste über das neue Denken gesagL. Neu sind die
JnhalLe unseres Denkcns, die unserer ZeiL, dem Heuke im Gegensah zum
Gestern, enLsprechen, neu ist die Frage, der Maßstab der WichLigkeiL, die
BeLonung und damiL die PerspekLive unseres Denkens; aber solange es wenig-
stens besonnenes Denken ist, wird es keine Ansprüche machen, die KonstiLu-
LionsgeseHc des bisherigen Denkens zu beseitigen oder durch irgendwelche Prak-
Liken neuc Denkorgane (die „ZnLuiLion", den „sechsten Sinn") zu erschließen
und zu enLwickcln, die den Menschen befähigen, in einer anderen Sphäre zu
denken, in die Dinge selber einzudringen. N"eues Denken darf nichk in dem
Sinne verstanden werden, daß es den Boden des gesunden Menschenverstandes
verläßt und sich auf eine andere Ebene begibk. Neues Denken hak also nichks
zu Lun mik einem „Denken des Ewigen", sondern es ist miL voller reifer Be-
wußtheiL nnd Selbstbescheidung Denken des Zeiklichen, des GegenwärLigcn.
Nakürlich soll damiL nichL das Denken des gesunden Menschenverstandes im
Sinne einer Rückkehr zur Naturbasis des PrimiLiven, Allgemeinmenschlichen
als ein neuer Weg gegenüber den Denkverirrungen von Gestcrn empsohlen
wcrden. WichLig ist dagegen, daß das Denken, soweiL es sich auch vom
Boden des gesunden Menschenverstandes entfernk, sich bewußk bleibk, daß
es von dork ausgegangcn ist und daß es von seinem Ausgangspunkt forkfchreiken,
aber sich nichL durch einen Sprung von ihm loslösen kann. Es gibk für das
Denken ein für allemal keinen Übergang eis allo geuos. JHir sprechen also
vom gesunden Menfchenverstand nichL als von einem neuen Denkprinzip, son-
dern von einer DenksiLuaLion, und die Hosfnung auf ein neues Denken muß sich
darauf beschränken, daß das Denken sich auf seine SikuaLion besinnk und sich
bewußl wird, daß es bei aller Erweikerung seines GesichLsfeldes und aller Ver-
feinerung seiner Methoden doch immer in dieser SiLuakion bleibk und mik
besseren MitLeln nichks anderes LuL als der gesunde Menschenverstand in seiner
SiLuaLion auch LuL. DamiL erhälk die alte Lehre der Korrespondenz des Ma-
krokosmos und des Mikrokosmos einen neuen Sinn; denn es ist damik gesagk,
daß die ganze Welk des Denkens eine EinheiL bildek und daß es keinen noch
so sublimcn und weikgespannten Gedanken gibk, der sich nichk in der fruchkbaren
Tiefe der KleinwelL bestäkigen könnke und bestätigen müßke. Das Denken ist
gebunden und kann sich nichk selber lösen.
Novemberheft 1927 (XXXXI, 2)
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Das neue Denken
Von Hermann Herrigel
I.
O^on ernem neuen Denken zu sprechen, ist nur in einem ganz bestimmken
^^Sinne möglich: im VerhälLnis zum Gestern. Allgemein, in formaler
HinsichL, also zeiLlos angesehen, gibL es kein neues Denken. DamiL ist nun
eigenLlich schon das WichLigste über das neue Denken gesagL. Neu sind die
JnhalLe unseres Denkcns, die unserer ZeiL, dem Heuke im Gegensah zum
Gestern, enLsprechen, neu ist die Frage, der Maßstab der WichLigkeiL, die
BeLonung und damiL die PerspekLive unseres Denkens; aber solange es wenig-
stens besonnenes Denken ist, wird es keine Ansprüche machen, die KonstiLu-
LionsgeseHc des bisherigen Denkens zu beseitigen oder durch irgendwelche Prak-
Liken neuc Denkorgane (die „ZnLuiLion", den „sechsten Sinn") zu erschließen
und zu enLwickcln, die den Menschen befähigen, in einer anderen Sphäre zu
denken, in die Dinge selber einzudringen. N"eues Denken darf nichk in dem
Sinne verstanden werden, daß es den Boden des gesunden Menschenverstandes
verläßt und sich auf eine andere Ebene begibk. Neues Denken hak also nichks
zu Lun mik einem „Denken des Ewigen", sondern es ist miL voller reifer Be-
wußtheiL nnd Selbstbescheidung Denken des Zeiklichen, des GegenwärLigcn.
Nakürlich soll damiL nichL das Denken des gesunden Menschenverstandes im
Sinne einer Rückkehr zur Naturbasis des PrimiLiven, Allgemeinmenschlichen
als ein neuer Weg gegenüber den Denkverirrungen von Gestcrn empsohlen
wcrden. WichLig ist dagegen, daß das Denken, soweiL es sich auch vom
Boden des gesunden Menschenverstandes entfernk, sich bewußk bleibk, daß
es von dork ausgegangcn ist und daß es von seinem Ausgangspunkt forkfchreiken,
aber sich nichL durch einen Sprung von ihm loslösen kann. Es gibk für das
Denken ein für allemal keinen Übergang eis allo geuos. JHir sprechen also
vom gesunden Menfchenverstand nichL als von einem neuen Denkprinzip, son-
dern von einer DenksiLuaLion, und die Hosfnung auf ein neues Denken muß sich
darauf beschränken, daß das Denken sich auf seine SikuaLion besinnk und sich
bewußl wird, daß es bei aller Erweikerung seines GesichLsfeldes und aller Ver-
feinerung seiner Methoden doch immer in dieser SiLuakion bleibk und mik
besseren MitLeln nichks anderes LuL als der gesunde Menschenverstand in seiner
SiLuaLion auch LuL. DamiL erhälk die alte Lehre der Korrespondenz des Ma-
krokosmos und des Mikrokosmos einen neuen Sinn; denn es ist damik gesagk,
daß die ganze Welk des Denkens eine EinheiL bildek und daß es keinen noch
so sublimcn und weikgespannten Gedanken gibk, der sich nichk in der fruchkbaren
Tiefe der KleinwelL bestäkigen könnke und bestätigen müßke. Das Denken ist
gebunden und kann sich nichk selber lösen.
Novemberheft 1927 (XXXXI, 2)
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