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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

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Heft 1 (Oktoberheft 1927)
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Bücherschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0080

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Bücherschau

P^>s ist nachgerade zum öffenkli'chen
„^-Geheimnis geworden, daß das geiftige
Leben des deutfchen Bolkes sich gegen-
wärtig >n einem Zustande des langsamen,
einige meinen auch des rapiden Verfalls
befindet." Mit diesem Satze begann vor
nun fast vierzig Jahren der Rembrandt-
deutsche sein Evangelium. Er hatte es
nur auf Deutfchland gemünzt, und sein
seltsamer Einfall, einen Künstler und
seine Schöpfung als Maßstab und Vor-
bild aufzustellen, befremdete damals nur
wenige von den vielen Tausenden, die
den Weckruf mit Begeisterung aufnah-
men. Heute wäre ein solcher Einfall
kaum denkbar. Denn die Krise der Ge-
genwart, auf geistigen und seelischen
Spannungen von größtem Ausmaße be-
ruhend, wird von denen, die sie als
ein unerträglich lastendes Problem emp-
finden, als eine Krise der menschlichen
Gesittung schlechtweg und damit als eine
„planetarische" Angelegenheit angesehen,
bei deren Regelung das künstlerische Re-
formideal eineö Volkes oder einer Rasse
sich als völlig unzulänglich erweisen
niüßte. Der große Gegensatz, oder sagen
wir besser gleich: der Kämpf zwifchen
Kultur nnd Zivilisation, den Langbehn
nvch als einen Widerspruch zwifchen
Kunst und Wissenschaft, Mystik und
Rationalismus zu erfassen glaubte,
wächst heute immer deutlicher zur eigcnt-
lichen Lebenö- und Erlebnisfrage der Zeit
herauS.

Zwei Bücher liegen mir vor, beide auö
dieser Not unserer Zeit entstanden:
Eugen Diesel sucht den „W eg durch
das Wirrsal" (Cotta, Stuttgart).
Bernhard Boyneburg erstrebt den
„W egaus dem Chaos" (Amalthca-
Verlag, Wien). Diesels Buch ist eine
leidenschaftliche Anklage der Mächte,
die unter mannigfachen Decknamen und
mit Hilfe von Schlagworten die Gegen-
wart regieren. Es sieht die Gesittung
von der „Verlarvung" bedroht, die Wirt-
schaft von der Überzüchtung deö Bedarfs,
von der Organisation überwuchert, die
Gemeinschaft zu einer staatlichen Mas-
senverwaltung entartet. Der Geist hat
sich deö entfesselten Jntellektes zu er-
wehren: „es scheint in der Welt nichts
Wichtigeres mehr zu geben als Probleme

— und Intellekte, die sie beschwatzen,"
sagt Diesel ahnungsvoll. Aber diese fie-
bernde Gehirntätigkeit ist nichts und
schafft nichts, „wenn wir nicht den Wil-
len haben, uns wieder zu vermenschli-
chen". Die Technik, die unser planeta-
risches Bewußtsein in rasendem Tempv
bis zu den äußersten Grenzen erweitert
hat, unter Dernichtung der natürlichen
menschlichen und geschichtlichen Rhyth-
men, scheint nun der eigenen inneren
Begrenztheit innezuwerden. Sie ist aus
ihrer klassischen Epoche herausgetreten,
und obwohl sie ewigen Wandlungen
unterworfen ist, kommen wir nicht nm
die Tatsache herum, „daß die Technik
alö solche entdeckt ist, daß diese
Entdeckung nicht wiederholt werden kann,
genau so wenig wie die Entdeckung
Anierikas". Vielleicht ist die Technik die
Grundlage einer höheren Gesittnng
und „muß erst mit voller Wucht an ihre
innere Grenze anprallen, um die mensch-
lichen und geistigen Kräfte wieder für
den Aufbau dieser neuen Gesittung frei-
zugeben". Denn unsere sogenannte Kul-
tur „deckt sich kaum noch irgendwo mit
deni Leben, das wir zu führen gezwun-
gen sind ... Jn unserer äußeren Welt
schwimmt alles unverbunden umher, die
Barbarei, die Gesittung und daS Larven-
tum. Nun stehen wir vor der großen
Frage, die Welt, die wir selber geschaffen
haben, auch beherrschen zu lernen."
llber diese verhältnismäßig einfache For-
derung kommt Diesel eigentlich nicht hin-
aus. Er lehnt die moderne Organisation,
die „Schwester des JntellektualiSmus",
als unzulänglich ab, weil das Leben
durch bloße Organisierung nicht regulier-
bar sei. Aber waö nun an deren Stelle
die „Larvenwelt", die drohende Anarchie
in Ordnung halten oder zur inneren Ge-
sittung zurückführen soll, das ist bei Die-
sel nicht so recht ersichtlich, auch wenn er
das Naive, das Einfache, das Unmit -
teIbare als Heil- oöer Hilfömittel
preist. Er kommt mir vor wie ein Schifs-
brüchiger auf hoher See, der tapfer mit
Wogen und Winden kämpft und die
Fahrtgenossen wie auch sich selbst mit der
Hoffnung auf das feste Land zu trösten
sucht, das hinter dem Horizont doch ein-
mal auftauchen müsse.

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