9Teue Formen dramaLischer Kunst
Von E. K. Fi' scher
^O^as Theaker der Gegenwark lebk zum großen Teil von der Vergangenheik.
''^^Der werkvollste Bestandkerl unseres Spielplans bcslehk aus Klassikern
des Sprechdramas, der Oper und der Operekke. Die Gegenwark ist vorwie-
gend mit leichker Ware verkreken. Es ist zwar üblich geworden, daß jede mikkel-
große Bühne jährlich ihre drei, vier „likerarischen" llraujführungen bringk und
daß rund ein halbes DuHend Skückc regelmäßig von Berlin aus die Bühnen
der Provinz eroberk, aber die ernsteren Werke erweisen sich meist als sehr kurz-
lebig. Sie werden von den vorsichkigen Dramaturgen vielsach in sogenannken
likerarischen Zyklen unkergebrachk, die sast ausschließlich von Jnkellekkuellen
bcsuchk werden und für sie gedachk sind. Die Prcsse stürzk sich heißhungrig
auf dicse selkenen Leckerbissen und mühk sich um eine möglichst gelehrke „Fn-
Lerprekakion", die darkun soll, in welche dem Laien nnzugängliche Höhen sich
der Dichker und der mukig nachklekkernde Krikiker verirrk haben.
Unbefangene Prüfung der Schauspielpläne unserer heukigen Bühnen läßk er-
kcnnen, daß neben dem kassefüllenden, „unlikerarischen" Amüsierkheaker sür die
breike Masse das likerarische, auf Workdichkung gegründeke Wclkanschauungs-
und Proölemkhcaker sür die geistigen oberen Zehnkausend sich behaupket. Zu
diesem likerarischen Theaker gehörk aber keineswegs nur die crnsthafke Dra-
maki'L der Gegenwark von Gerhark Haupkmann bis Ernst Barlach, sondern
das gesamke klassische Drama, einschließlich Shakespeare und Sophokles.
Alles, was in den likerarischen Baedekern der lehken zweikausend Jahre mik
eincm Skern versehen ist, hak die Dramakurgie des neunzchnken Iahrhunderks
zu einer großen Gruppe klassischer Bühnenwerke zusammengefaßk, deren ge-
mcinsames Kennzeichen der Primak des Dichkers vor dem Thea-
Ler, des Workes vor der Geste zu sein schien. Kein Wunder, daß das „Bolk"
solcher Kunst gegenüber befangen wurde, daß es an seiner eigenen Ausnahme-
fähigkeik gegenüber den hohen WorL-Kunstwerken zu zweifeln begann und
schließlich die Theaker mied, und zwar nicht nur das Bolk — alig^ misora
plebs—, sondern mehr und mehr auch der guk sikuierke Bürger, dem es weni-
ger um ein Training seiner geistigen Fähigkeiten als um eine Skunde der
Erholung zu tun war.
Dieselben Iahrhunderke, die die bedeukendsten dramakischen Kunstwerke deuk-
scher Zunge hervorbrachken, sahen eine zunehmende Enksremdung zwischcn Dich-
ker und Bühne und zwischen Bühne und Publikum, soweik diese Bühne sich in
den Dienst des Dichkers stellke. Wir haben an dieser Skelle in unserm AufsaHe
„Drama und Bühne" Go. Ig., Hesk 10) dargelegk, wie das Theaker nm
seiner selbst willen durch denHumanismus und späker durch den Rakionalis-
mus allmählich der Dichkung dienstbar gemachk wurde. Der Schauspieler,
einst der König der Brekker, wurde zum gewisscnhafken Inkerpreken cines
WorLkunstwerks, das keine Improvisakion, kein komödiantisches Sich-Ausleben
mehr gestakkeke. Das Publikum, das im Mchsterienspiel und später im Pos-
sen- und Zauberkheaker, ja sogar noch in den großen Dramen Shakespearcs
alkverkrauke Spielfiguren wieder und wieder begrüßke, das gewohnk war, im
Spiegel der Schaubühne sein eigenes Gesichk wieder zu erkennen, sah immer
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Von E. K. Fi' scher
^O^as Theaker der Gegenwark lebk zum großen Teil von der Vergangenheik.
''^^Der werkvollste Bestandkerl unseres Spielplans bcslehk aus Klassikern
des Sprechdramas, der Oper und der Operekke. Die Gegenwark ist vorwie-
gend mit leichker Ware verkreken. Es ist zwar üblich geworden, daß jede mikkel-
große Bühne jährlich ihre drei, vier „likerarischen" llraujführungen bringk und
daß rund ein halbes DuHend Skückc regelmäßig von Berlin aus die Bühnen
der Provinz eroberk, aber die ernsteren Werke erweisen sich meist als sehr kurz-
lebig. Sie werden von den vorsichkigen Dramaturgen vielsach in sogenannken
likerarischen Zyklen unkergebrachk, die sast ausschließlich von Jnkellekkuellen
bcsuchk werden und für sie gedachk sind. Die Prcsse stürzk sich heißhungrig
auf dicse selkenen Leckerbissen und mühk sich um eine möglichst gelehrke „Fn-
Lerprekakion", die darkun soll, in welche dem Laien nnzugängliche Höhen sich
der Dichker und der mukig nachklekkernde Krikiker verirrk haben.
Unbefangene Prüfung der Schauspielpläne unserer heukigen Bühnen läßk er-
kcnnen, daß neben dem kassefüllenden, „unlikerarischen" Amüsierkheaker sür die
breike Masse das likerarische, auf Workdichkung gegründeke Wclkanschauungs-
und Proölemkhcaker sür die geistigen oberen Zehnkausend sich behaupket. Zu
diesem likerarischen Theaker gehörk aber keineswegs nur die crnsthafke Dra-
maki'L der Gegenwark von Gerhark Haupkmann bis Ernst Barlach, sondern
das gesamke klassische Drama, einschließlich Shakespeare und Sophokles.
Alles, was in den likerarischen Baedekern der lehken zweikausend Jahre mik
eincm Skern versehen ist, hak die Dramakurgie des neunzchnken Iahrhunderks
zu einer großen Gruppe klassischer Bühnenwerke zusammengefaßk, deren ge-
mcinsames Kennzeichen der Primak des Dichkers vor dem Thea-
Ler, des Workes vor der Geste zu sein schien. Kein Wunder, daß das „Bolk"
solcher Kunst gegenüber befangen wurde, daß es an seiner eigenen Ausnahme-
fähigkeik gegenüber den hohen WorL-Kunstwerken zu zweifeln begann und
schließlich die Theaker mied, und zwar nicht nur das Bolk — alig^ misora
plebs—, sondern mehr und mehr auch der guk sikuierke Bürger, dem es weni-
ger um ein Training seiner geistigen Fähigkeiten als um eine Skunde der
Erholung zu tun war.
Dieselben Iahrhunderke, die die bedeukendsten dramakischen Kunstwerke deuk-
scher Zunge hervorbrachken, sahen eine zunehmende Enksremdung zwischcn Dich-
ker und Bühne und zwischen Bühne und Publikum, soweik diese Bühne sich in
den Dienst des Dichkers stellke. Wir haben an dieser Skelle in unserm AufsaHe
„Drama und Bühne" Go. Ig., Hesk 10) dargelegk, wie das Theaker nm
seiner selbst willen durch denHumanismus und späker durch den Rakionalis-
mus allmählich der Dichkung dienstbar gemachk wurde. Der Schauspieler,
einst der König der Brekker, wurde zum gewisscnhafken Inkerpreken cines
WorLkunstwerks, das keine Improvisakion, kein komödiantisches Sich-Ausleben
mehr gestakkeke. Das Publikum, das im Mchsterienspiel und später im Pos-
sen- und Zauberkheaker, ja sogar noch in den großen Dramen Shakespearcs
alkverkrauke Spielfiguren wieder und wieder begrüßke, das gewohnk war, im
Spiegel der Schaubühne sein eigenes Gesichk wieder zu erkennen, sah immer
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