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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1927)
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Michel, Ernst: Der Bolschewismus und die Kernfrage Europas: aus Anlaß von N. Berdjajews Schrift "Das neue Mittelalter"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0036

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Der Bolschewismus und die Kernfrage Eurogas

AusAnlaß von N.Berdjajews Schrift „D as nene Mitkelalter"
Von Ernst Michel

ikolai Berdjajew rst wohl heute der einzige große christliche Denker, den
' ^ ^ die epochalen Ereignisse der beiden lehten Jahrzehnte zu dem Versuch
einer christlichen, nämlich heilsgeschichtlich orientierten Ge-
schichtsphilosophie geführt haben. Dieser Versuch — dargeboten in den beiden
Büchern „Der Sinn der Geschichte" (Otto Reichl Berlag, Darmstadt 1925)
und „Das neue Mittelalter" (ebda. 1926) — wurzelk nicht etwa nur in dem
Zusammenbruchserlebnis, ist nicht etwa, wie O. Spenglers M>erk, der bloß
rückwärts gerichketen Jnkuition des Wissenschaftlers entsprungen, sondern zieht
seine geistige Kraft durchaus aus der begründeten Zuversichk auf den Anbruch
einer neuen christlichen, und zwar fchöpferifchen Epoche. Berdjajews
Gedanken über die Struktur des kommenden christlichen Zeitalters, schon in
seinem Werk „Der Sinn des Schaffens" (soeben, vermehrt um eine neuere
Arbeit „Erlösung und Schöpfertum", bei Mohr, Tübingen, erschienen) vor
fünfzehn Jahren niedergelegt, überraschen durch die Kühnheit der Znkuition:
daß der bis heute reichenden mittelalterlichen Epoche der Kirche, die der Er-
lösung gewidmek war, nunmehr eine Epoche folgen werde, in der das Ge-
heimnis der „christologischen" Vollmacht des Menschen erfaßt und in der
positiven W elke rn e ue ru ng, in der Fortführung des göttlichen
Schöpfungswerkes, verwirklicht werde. Dem Zeitalter, in dem das Christen-
Lum fast ausschließlich „Religion der Erlösung" war, folge nunmehr die
Epoche des christlichen Schöpfertums: des Christentums als „Religion
der Berklärung der Welt". Mit dieser Konzeption durchbricht Berdjajew
den Ring jenes Zeitalters, das die Kirche in drei Bekenntnisse — das katho-
lische, protestantische und ostchristliche — zerspalten aufweist; die große Aufgabe
der neuen Epoche flutet über diese bis heute sehr bedeutsamen Differenzen, sie ge-
schichklich antiquierend, hinweg.

Ganz aus dieser in der kommenden Epoche wurzelnden Sichk ergibt sich
Berdjajews Beurteilung der Ereignisse unserer Zeit, wie z. B. des Bolsche-
wismus. Jn dieser Beurkeilung hebt sich Berdjajew stharf ab von der Ein-
stellung sowohl der Bolschewisten, als auch der Emigranten, aber auch von der
üblichen westeuropäischen Auffassung, die ja alle in ihrer geistigen Orientie-
rung einer Ordnung oder Ideologie der Vergangenheik verhaftet sind.
Auch der Bolschewismus bleibt — nicht als Bewegung, aber in seiner
Ide 0 l 0 gie — im 19. Iahrhundert stecken. Berdjajews Ausführungen über
den Bolschewismus sind für uns vor allem deshalb von besonderer Bedeukung,
weil er ihn als die einzige geistige, wenn auch dämonische Macht sieht, die
Europa aus der Vergangenheik herauszunötigen und auf einer andereu Ebene
zur Gewisfensentscheidung zu zwingen vermag: der Bolschewismus stelle
Europa unausweichlich und eindeutig vor seine Zukunftsfrage. Diese Zu-
kunftsfrage Europas sei im folgenden — zugleich als Perspektive der Berd-
jajewschen Geschichtsphilosophie — entwickelt. (Wir verweisen in diesem Zu-
sammenhang auf unsre eigenen, im GrundsäHlichen mik Berdjajew durchaus
übcreinstimmenden Ausführungen in „Politik aus dem Glauben", Berlag
E. Diederichs, Iena.)

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