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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1927)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Neue Formen dramatischer Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0192

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Dramen der Klassiker nichk mehr „ziehen", wenn sie nach den Regeln der
Überlieferung inszenierr werden. Die Regisseure begannen, gestühL auf diese
ErkennLnis, das TheaLer von der Vorherrschafk des DichLers
zu befreien. Sie wollken nichL mehr InkerpreLen sein, sondern Kompo-
nifken einer TexLunLerlage. Den Nruk und das Geschick zu solchen UnLer-
nehmungen konnLen sie aber nur aufbringen, weil das Bedürfnis nach einer
völligen Erneuerung der Theakerkunft sich schon lange vor der Krise des Dra-
mas gelkend gemachk haLLe. Der Nakuralismus haLLe die SprechkunsL des
Schanspielers zerstörk, und an die Skelle des Länzerischen Menschcn,
der seinen ganzen Körper virkuos beherrschke, war mehr und mehr der Spe-
zialist gekreken, der irgendeinen degenerierken oder maroden körperseelischen Ty-
pus aus der Bühne wie im Leben darskellte. 2lls der RkaLuralismus sich LoL-
gelaufen haLLe und dem Symbolismus und der N'euromantik eine Schau-
spielcrgenerakion ohne Musik der Sprache und Wohlklang der Gebärde ver-
erbke, enkstand außerhalb des TheaLers der neue Tanz als Kunstwerk.
Von verschiedenen SeiLen her crfolgke der Durchbruch des Länzerischen Men-
schen. Dieser wollke das alke BalleLL überwinden, sener aus dem Geiste der
Musik Lanzen, dieser die griechhche Harmonie der Körperbewegung zurück-
erobern, jcner die GesehmäßigkeiL scines eigenen Körpers ergründen nnd in
Länzerische Bewegung fassen, dicser wollte im Einzelkanz sein Ich ausleben,
jcner im GruppenLanz das Gemeinschafkserlebnis der neuenLdeckten Körper-
seele sich und anderen vermikteln. Der GruppenLanz siegte über den Einzel-
Lanz. Aus crsten formalistischen Versuchen, konLrapunktische Musik körperlich
auszudeuken, entwickclte fich allmählich das Tanzdrama. In seiner rein-
stcn Form ist es frei von Wort, Musik und realistisch deutbarer Handlung.
In seinen gebräuchlichen Formen gehk es Verbindungen ein mit Oper und
Drama. Die TheaLcrleiLer haben ihm bis heuke nichk allzuviel Verständnis
entgegengebracht. Wohl aber setzk sich die Erkenntnis durch, daß der wahre
Schauspielcr ein Länzerischer Mensch sein müsse. Tairojfs „entfesseltes The-
ater" riß den Vorhang auf und gab den Blick frei in die ZukunfL unserer
eigenen Schaubühne. Einzelne Regisseure eifern ihm bereits nach, hier im
Nahmcn des altcn Spielplans, dork nnt Werken, die dem neucn Typus des
Bühnenkünstlers auf den Leib geschrieben sind. 2lls Reinhardk bewegte Men-
schenmassen erstmals auf die Bühne brachte, gab es noch keine rhythmische
Gymnastikschule für ProLagonisten und „Völkerspieler". HeuLe fordert der
kundige BühnenleiLer vou den MiLgliedern seines Ensembles völlige Be-
herrschung ihres Körpers und die FähigkeiL, sich rhythmisch zu bewegen und
sich einzusügen in die geschlossene KomposiLion eines vom Regisseur geschaffenen
opLisch-akustischcn Bcwegungskunstwerks.

Man epperimentierL gegenwärtig mit Tanzdramen, Sprech- und Be-
wcgungschören. Sie alle schuf die Sehnsucht nach neuer GemeinschafL.
Iede Gebärde, jeder Laut ist Aufruhr, Hingabe oder Bekenntuis. Oft ent-
LäuschL das „LibreLLo", selten die 2lufführung. Es iß der Ehrgeiz der Be-
wegungsregisseure, Mcnschenmassen so souverän anschwellen nnd zurückfluLen
zu lassen, gegeneinander zu führen und auseinander zu zwingeu, wie der Diri-
gent die Tonmassen des Orchesters bewegk. Man kann es erleben, daß Sprech-
chordramen mit starker politischer oder kirchlicher Tendenz 2lndersdenkende und

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