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Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Die Geburt des Tanzes, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0179

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Die Geburt des Tanzes

us Vergleichungen init den TÄnzen der Primitiven findet man heute
oft den modernen Tanz gerechtfertigt. Bei ihnen, sagt man, aus der
Iugendlichkeit des Menschengeschlechtes wurde der Tanz geboren,
daran knüpfe er wieder an! Es ist falsch und verständnislos. Heute wird
die Vollkunst des Tanzes geboren — es wird zwar noch lange währen!
— und am Höchsten Zukunftziel soll sie Richtung nehmen. Keine ekstatische
Versenkung in die Corroborris der Australier und die Kulttänze der Tibe-
taner wird diese Geburt so fördern wie eine eindringende Betrachtung der
Gegenwart und der Zukunft.

Zu Ende des neunzehnten Iahrhunderts gab es Tanz nur als „Ballett".
Das klingt heute fast wie ein Widerspruch. Was hatte die Hüpferei verbil-
deter, exerzierter Frauen- und MLnnerkörper, ein kunstwidriger Zierat
des halbkunsthaften Opernbetriebs, am Ende mit „Tanz" zu tun? Weniger
damit als mit der Schaulust einer leicht blendbaren Menge, mit der eroti-
schen Neizsamkeit eines luxusgewöhnten Liebhabertums und mit dem ge-
schlechtlichen Auswahlbedürfnis interessierter Scheinmäcene. Ein modi»
scher Trieb heißt heute etliche Betrachter das Ballett in Schutz nehmen;
klug genug, einige technische Vorzüge des Ballett-Wesens geschickt gegen
technische Mängel einiger moderner Tanzversuche auszuspielen, vermag
solches Bestreben wohl wahrhaftig etliche Verwirrung der Geister. Dennoch
bleibt es dabei, daß Ballett außerhalb jeglicher Kunstbetrachtung fällt — von
Einschrankungen dieses Satzes nachher.

In das Tanzwesen brachte eine Frau neues Leben — es lst bezeichnend,
daß es eine Frau war! bis heute hat der GoLL nahezu alle Entwicklung
des Tanzes Frauen anheimgegeben! —, welche für ihre Person zwar nichts
weniger als eine Tänzerin war: Isadora Duncan. Es ist schwer, ihr
nun noch gerecht zu werden. Aus der zwanzigjährigen Ferne erscheint sie
gleich einem Kühlein auf der Wiesen. Da hopste sie fröhlich und scherzte
über die Fröhlichkeit und Gesundungskraft ihrer „Pas". In Wahrheit hatte
sie viel Mut bewiesen, indem sie als erste auftrat — mit nackten Füßen,
in freiem Gewand, aus eigner, obzwar dünner Bewegtheit, und im Rahmen
gesellschaftlicher Konzertveranstaltung, fern dem schwülen und peinlichen
Atemraum des Balletts. Einen künstlerisch kaum zu nennenden, einen ge-
sellschaftlich entscheidenden Schritt hatten ihre derben Füße, ihr angelsäch-
sischer common sense getan.

Der zweite Schritt schon riß uns hinein in eine Zukunft, die noch heute
Zukunft ist. Ein verschleiertes Mnie tat ihn, das die Gottheit geschlagen
hatte: Madeleine G. „Schlaftänzerin" nannte sie sich. Zwei Winter
wohl waren ihr vergönnt. Physisch ausgerüstet von Ballettmeistern, erwachte
sie jenseits aller Erziehung und Konvention unter dem Anhauch der Musik
— im hypnotischen Schlaf. Rnd tanzte wie noch keine nach ihr wieder, was
eine entfesselte Seele großen Stils nur immer in sich zu tanzen finden konnte,
sobald ihre Schwingen sie ungehemmt tragen durften. Anzweifelhafte Offen-
barungen! Der Weg zum Tanz war gewiesen. Aber die Offenbarung glich


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