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Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Die Geburt des Tanzes, [1]
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Dietrich: Anatole France, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0184

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scheidende Träger verteilt.* Das scheint hinzuweisen auf sein besonderes Ge-
biet: dqs Trieb- und Willensleben. Ich bin versucht, ihm den „Kosmos der
Strebigkeit" zuzuteilen, obwohl das Wort häßlich ist, und will dies erklären.
Wir sind in Verlegenheit, dieses Gebiet zu beschreiben. Das Wort reicht
hier nicht weit (und eben deshalb, könnte inan, metaphysisch deutend, sagen,
drückt der Tanz an Stelle des Wortes diesen Erlebniskreis aus). Wir finden
uns in doppelter Weise bewegt: Getrieben und treibend, passiv und aktiv,
von „außen" oder „innen" her und von uns selbst. Triebleben und Willens-
leben sind die Bezeichnungen. Sie können zusammenlaufen, aber auch in
Kampf geraten. Immer ist das Ergebnis ein „SLreben": auf Veränderung
der inneren Lage und Haltung wird abgezielt. (Schluß folgt)

Anatole Franee

(Schluß)

Es wäre ein Mißverständnis, zu glauben, Anatole France sei durch
seinen ausgeprägten Relativismus gehindert worden, in praktischen Fragen
entschieden Partei zu ergreifen und mutig Farbe zu bekennen. Er war
allezeit ein tapferer Mann und die Kühnheit seines Denkens schreckte vor
keinen Folgerungen zurück. So wenig auch seine auf Denken eingestellte
Natur für den politischen Tageskampf geschaffen war, er ging ihm nicht aus
dem Wege. Er liebte es, sich der Schwachen und Verachteten anzunehmen,
für Anpopuläres und Verfemtes zu kämpfen. Als in Frankreich der Natio-
nalismus raste und es wirklich gefährlich war, ihm zu trotzen, setzte
er sich für Dreyfuß und Zola ein. Trotzdem er mit jeder Faser seines We^
sens Franzose war, hat er wie kein anderer seinen Landsleuten die bittersten
Wahrheiten gesagt, vor allem in jener großen Satire „Die Insel der Pin-
guine", in der die ganze französische Geschichte ironisiert wird. Vorzüg-
lich spottet er über die „trublions", die nationalistischen Iünglinge; er ent-
larvt die Motive jenes niedrigen Egoismus, der sich als Patriotismus ge-
bärdet. Die tzeuchelei „zivilisatorischer Bestrebungen", wie die Kokonial-
politik der Großmächte, kennzeichnet er in köstlicher Weise. In einer seiner
Neden finden wir die Stelle, die er später auch dem „tzumanisten" Mco-
laus Langelier (in dem Werke: „sur la pierre blanche") in den Mund
legt: „In unseren Tagen haben die christlichen Nationen die Gewohnheit
angenommen, jedesmal, wenn in China die Ruhe gestört war, Soldaten
dorthin zu entsenden, die durch Diebstahl, Notzucht, Plünderung, Mord

* Es ist notwendig, hier eine Trennlinie gegen die „Pantomime" älteren Stils
zu ziehen. Diese war ein verkapptes und verknapptes Drama: Mimodrama. Sie
gab die „Begleitgebärden" eines Wortdramas, welches der Zuschauer hinzu-
dachte: eine Kaprice! Die Karssawina — eine „Mnzerin"! — lag in der Panto-
mime Minuten hindurch an einer SLelle und „bedeutete" ihrem anwesend-
andringenden Bewerber: „Warte! Bald! Noch nicht! Sofort!" und zugleich dem
Zuschauer: „Ich warte heimlich auf den Geliebten; er muß sofort eintreten und
mich befreien." Sie führte Begleitmimik vor. Man begriff nicht, warum die
Leute den Mund hielten, obwohl die Mimik unwiderstehlich treffsicher war. Der
Gesamtvorgang war ohne den Text, den man gedruckt erhielt, knapp verständ-
lich. Dies ist das Wesen älterer Pantomime. Nebenher drückte sie auch aus,
was Worte weder fassen noch erläutern können — nebenher! Tanz drückt
dies und gerade dies und, in reiner Gestalt, dies allein aus! Er ist die
Sprache des Wortlosen! Da auch dies „dramatisch" gegeneinander spielen kann,
darf das Wort Pantomime aber auch wohl auf echten Tanz angewendet werden.
 
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