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Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1925)
DOI Artikel:
Heusler, Andreas: Altgermanische Dichtung
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Fischer, Eugen Kurt: Carl Spitteler
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https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0242

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dern mit dern Seufzer des geschändeten Mädchens. Mit Siegesjubel
schließt nur die Offasaga (Äberlieferung des 12. Iahrhunderts) — auch
Ingelds Vaterrache nach dem altdänischen Liede bei Saxo, doch ist dies
jüngere Kunstform, auch stofflich beschnitten: aus dem englischen Weit-
fahrt 48 sehen wir, daß die Handlung einst weiter ging bis zum Unterliegen
hes jungen Rächers. Ob Walther-tzildegund von jeher versöhnlich endete
wie im gereimten Liede, der Quelle Eckeharts?

Zu diesen Stoffen gehört eine Stimmung ernst, von dunklen Ahnungen
durchzittert, doch nicht in Trauer ergeben, sondern von Bewunderung der
tzeldengröße gestrafft. In der Ldda geht sie mehr ins Trotzige, natur-
haft Wilde, in den südlichen Nesten ist sie gebändigter, ethisch erwärmt;
was mehr an der innern Zeitstufe als an der Volksart liegen wird. Dort
wie Hier ist es eine vornehme, standesbewußte tzaltung. Die Gemütlichkeit
des Spielmanns, seine Späße und seine Kraßheiten liegen unter dem Skop.
Das berühmte Zechen der schauderhaft Verstümmelten am Schluß des
Waltarius ist Spielmannsart. Mochte im Leben der Drucht (wie in
der isländischen Familiensaga) derartiges vorkommen: der würdige Ton des
Liedes konnte nicht so ausklingen. Das tzeldengedicht erhöht das Leben
und seine Stimmungen. Die Grausamkeiten des alten Stils gehn ums
Ganze; sie wecken Entsetzen oder Lhrfurcht, nicht Gelächter.

Carl Spitt ler ^

^^m Kunstwart hat Carl Spitteler vor fast vier Iahrzehnten zuerst zur
^t deutschen Offentlichkeit gesprochen; Felix Weingartner trat bald für
^Dihn als das „einzige lebende Genie" ein; später faßte Lugen Diederichs
den Mut, die Werke des Schweizer Ligenbrödlers herauszugeben, während
Ferd. Avenarius seine große Leserschar unverdrossen für ihn zu gewinnen
suchte. Schon Keller und C. F. Meyer, Widmann und Nietzsche aner-
kannten den Crneuerer der epischen Großform. Dennoch wurde er nie weit»
bekannt, vor allem nicht volkstümlich. Niemals war er Sprachrohr einer
Gemeinschaft, nie sprach er zu einer großen Gemeinschaft; er blieb der große
Cinsame, Wenigen eine Merkwürdigkeit, Einzelnen nur ein Lrlebnis. Das
fühlte Spitteler selbst, aber er litt kaum darunter. In nicht zu spätem Alter
zu Wohlstand gelangt, verschloß er sich nach außen keineswegs; er schrieb
Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften, kleine Novellen, Balladen, sogar
lyrische Liebenswürdigkeiten, die ein breiteres Publikum hätten gewinnen
können; aber sein eigentliches Werk blieb das eines großen Linsiedlers,
der zu sich selber spricht, herausgetreten aus dem Strom der Zeit; er kennt
kein tzeute und Morgen, nur ein ewiges Immerdar, in dem die Gesichte
Dauer haben und unwandelbaren Symbolwert.

Die Dichter unserer Tage sind allesamt reizsam. Dieses Stichwort Lam-
prechts ist noch nicht veraltet. Das Lrbe der impressionistischen Iahr-
zehnte bleibt, solange der Großstädter in der Kunst vorherrscht. Der flüch-
tige Lindruck, den der Neizsame empfängt, wird gesteigert oder abgeklärt
und gedämpft, doch er ist das erregende Moment des Schaffens. Auch
Spitteler ist reizsam, indessen: er hat den ungeheuren Atem, gewaltige Lr-
lebnisketten zum Wortkunstgefüge so zusammenzuballen, daß der Sinn
ewiger Gesetze darin bildhaft deutlich wird. Auch er geht, wie jeder
individualistische Dichter, vom Augenblickserlebnis aus, aber er bleibt nicht
bei ihm stehen, es hat für ihn als einzelnes keine Geltung, nur als sinn-
 
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