Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1925)
DOI Artikel:
Das Geschenk des Lebens
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0282

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext



Das Geschenk des Levens

^^ch denke an ein kleines, armselig eingerichtetes Zimmer in einer tri-
^M vialen Großstadtwohnung, weit außerhalb der eigentlichen Stadt. Das
^FHaus hat niemals Glanz, nicht einmal Wohlstand hergezeigt. Ls ward
von einem Manne, der überflüssiges, aber nicht viel überflüssiges Geld
hatte, zu „Anlagezwecken" gebaut; Kaserne für Menschen, die gar kein
überflüssiges Geld haben. Nun, mitten drin in der gesichtlosen Straße,
um die herum seither hundert ebenso gesichtlose Straßen sich zu Tode
langweilen und darüber jammern, daß ihre Steine nicht lieber im Schoß
der freien Erde geblieben sind, ist es häßlich; fünf übereinanderliegende
Reihen von je fünszehn Fenstern, unter einem billigen Dach und über
einem schmalen Tor und zwischen zwei ebensolchen tzäßlichen. Äber»
dies in der nächsten Umgebung nichts Schöneres! Eine Lrambahn läuft
am Tor vorbei. Lin Dienstmann hat vor dem nächsten seinen Schemel.
Gegenüber hält der Greisler Kartoffel und schlechte Äpfel im schmutzigen
Laden. Zwanzig Schritte straßeaufwärts wohnt ein Kassenarzt; zu ebener
Erde; man sieht durch schüLLere Vorhänge ins Sprechzimmer hinein; eine
geizige Birne hängt von der Decke hernieder. tzingegen hat im dritten
tzaus straßeabwärts eine immerhin lustigere Gesellschaft Wohnung. Ihr
Klavier macht für Stunden, besonders wenn der Wintertag den Nebel
zwischen die tzäuser hereinstopft, die Straße zucken vor Lrregung. Aber
es ist eine schmerzlich krampfhafte Lrregung; dieses Klavier bedeutet eine
grenzenlos hohle Lüge, und erlogen sind die Frauen, die zu seinem Spiel
tanzen, und noch erlogener die Männer, die eilig in dieses tzaus hinein-
jagen. Der Polizist, der, kaum daß die Dämmerung kommt, just vor
diesem Tor gern auf und ab spaziert, — er wäre nicht da, wenn es mit
diesem tzause ganz stimmte. Er ist ein anständiger Mensch. Gott, es
sind so viele anständige Menschen in dieser SLraße; Schneider, SLeuer-
beamte, Briefträger, Köchinnen, Miedermacherinnen, Hebammen, sogar
eine Leichenbestattungsfirma. Und alle sind sie irgendwie auf Tafeln,
die an den tzäusern baumeln, oder auf Kärtchen, die in den finsteren
Fluren glotzen, genau benannt, oft auch übermäßig angepriesen. Aber
genau so wie jener Polizist fühlen auch sie alle hie und da einen SLich
in ihrem Blut, wenn sie das Klavier hören; dann schauen sie triebhaft
gespannt in die Fenster hinauf, die abends ein rotes Licht bekommen;
und dann, da sie „da hinauf" doch nicht ganz ernstlich wollen, in ein
paar andere Fenster: in die des kleinen Kaffeehauses an der Lcke; und
in die der Weinschenke ein paar Schritte weiter oben; und in die der
waghalsigen Delikatessenhandlung ein paar Schritte weiter unten, die
einen richtigen tzummer ausgelegt hat. Zum Teufel! Ia freilich, zum
Teusel! Denn Anständigkeit ist etwas, das durch lange Zeit Hindurch,
bevor einer als anständiger Mensch geboren werden kann, erworben
und behauptet worden sein muß; nun sitzt sie ihnen im Blute und —
wird verteidigt von ihrer Armut. Weder Klavier, noch Kaffeehaus, noch
Wein, noch Hummer! Und so schauen sie denn plötzlich mit der Wollust
eines anständigen Gewissens — mit ihrer einzigen! — von all diesen

Märzheft 192s (XXXV1I1, 6)

2V
 
Annotationen