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Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1925)
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Haës, K. W.: Drei Mappenwerke: Marc, Hildebrandt, Kreidolf
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https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0234

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im Naturbild, zuweilen auch gefühlvoll empfundener tzausgenosse. Ist
es nun triebhafte Absage an das überkultivierte abstrakte Denken, an
Wissenschaft und Verstand als die Kennzeichen des damit in der Welt
isolierten Menschtums, ist es tief erwachsene Ehrsurcht vor dem Wunder
alles Geschaffenen, ist es ein ahndevolles tzerumtasten im Bereich unreflek-
tierten, triebhaften Lebens und ein Suchen nach den tiefsten Quellen —
genug, das Tier tritt uns aus heutiger Kunst wesentlich anders entgegen.
Neu scheint es durchlebt in seiner tiefen Rätselhaftigkeit, was dies bedeutet:
bewegtes Leben neben uns in Kampf und Ruhe; ergriffen ist jener von
der Tragödie des Absterbens dieses Lebens, ergriffen dieser von der Ge-
walt der Verkündung im organischen Lebensgebilde. Aus den Quellen
früher Märchenschöpfungen und Mythen scheinen so manche Kunstwerke
geboren, die bezeichnend für unsere Tage sind. Vor mir liegen sechzehn
Skizzen Franz Marcs, welche Tiermärchen, Tiersagen, Tiermythen,
obzwar ohne erzählbaren Inhalt, gleichsam zusammengepreßte Visionen
von Tierwesenheit und Tiererlebnissen scheinen. Das Tier als leidende
Kreatur, als dämmerndes tzalbwesen, als Scherz und Spaß Gottes, als
Sinnenorganismus, als Gefahr, als Schreck, äls Gegenspieler des Menschen,
alles ist enthalten. Nichts davon ist beabsichtigt. Es sind hingeworfene
Rotizen und Entwürfe des großen Tiermalers aus seinen hinterlassenen
Skizzenbüchern, und wer will, mag sie betrachten als sinnleere Gebilde
des SLiftes und Pinsels. Wer das will, wird auf seine Rechnung kommen.
Denn es war freilich ein Künstler hohen Ranges, der dies alles zeichnete
und malte. Welch ein Meister der starken Kurve, der packenden Diagonale,
der linearen Komposition, ja der ornamentalen Klänge auch auf kleinstem
Raum! welch ein Beherrscher der Farbe, die er so wohltuend und zartsinnig
wie erregend und gewaltsam verwendet! Es sind Blätter unter den sechzehn,
die man nur als Farbfleckenfeld, beliebig von allen vier Seiten, zu be-
trachten nicht müde wird, so bannend und tief anziehend, hineinziehend in
das Wunder des zerlegten Strahls sind sie. And andere haben eine er-
schütternde Gewalt, den Blick an Strich und Gegenstrich zu fesseln, durch
imaginäre Tiefen zu ziehen und zu hohlen Räumen. . .

Indes, nimmermehr kann man sich im Ernst damit begnügen. Der
Meister der blauen Kühe war nun einmal ein Magier des Tiertums, und
von allen artistischen Reizen wird man auch durch diese Skizzen plötzlich
zurückgerufen zu dem mythischen Gehalt der Blätter. Ihre Quelle liegt
umdunkelt im Angewissen. Psychologen der Zeit behaupten, es gebeTräume,
welche Erinnerungen an das Geborenwerden sind: Wir müssen durch einen
dunklen Gang hindurch, es schmerzt, es zerrt an den Gliedern, zerquetscht
das tzerz, preßt den Atem, aber wir müssen! es ist die Wiederkehr unseres
ersten Erlebens nach den verdämmerten Tagen im Mutterleib. Vielleicht gibt
es auch Träume des ahndevoll belauschten Blutes von früherem Tier-Sein?
Von ehemaligen Inkarnationen? Von Schweifen und Listen, von Iagen und
Gejagtwerden, von sinnebeherrschtem Instinktdasein, von einem Leben des Ge«
nießens, des Leidens, der Angst, der Gier, des Spiels, des Eroberns und
Verlierens ohne all und jedes Wissen? Weben in uns Erinnerungen an
das Vor- und Antermenschliche? Solches läßt auch Franz Marcs Skizzen-
schaffen fragen. Denn seine Fabeln und Mythen, seine Märchen und
Sagen, sie möchten am Ende einmal einen Dichter reizen, sie textlich zu
„illustrieren", aber sie selber scheinen nicht als Illustrationen geboren, son-
dern aus Rachtwandlerahnung und Blutverwandtschaft, schwanger von

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