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Kunstwart und Kulturwart — 38,1.1924-1925

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Zwischen Gestern und Morgen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14441#0292

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hebt an. Wexander zerbricht den Marnror, das Symbol seiner bloßen
Verneinerzeit. Doch eine neue, tiefere Problematik scheint die Veiden zu
verwirren. Wie sie sich langsam einander voll zuneigen, wie zuerst ihn
das wildeste Liebebegehren ergreift und er voll namenlosen Dranges sie
umwirbt, wie sie sich versagt, wie er nun verzichtet auf Genuß irdischer
Liebe, wie bald genug doch auch sie bereit wird, sich ihm zu schenken, nun
aber beide stocken und gehemmt scheinen, bricht in ihr Leben eine Macht
ein, die zu nennen wir verlegen sind. Gewiß, daß nun ein urgewaltiges
Schicksal Alexandern an Esther, Esthern an Wexander geschmiedet hat.
Doch zum „Leben" im Verstand der Verständigen gelangen sie nicht. Dieses
Schicksal heißt sie alsbald im Fortwirken von Mexanders furchtbarer Ab»
sage an alles Menschengemeine auf Erfüllung, Zeugung, tzervorbringung
verzichten, und im Schwunge einer kosmisch durchwitterten Leidenschaft
der Liebe und des Willens zu wesentlich^vorbestimmtem Leben versinken sie
in gemeinsamen Tod. „Die gemessene Welt der gefesselten Leiber mit der
ungemessenen der bannlosen Geister zu überfliegen" lautet ihr Rätselgebot.

Und ist das nun „die Geburt des Lebens"? Ich lasse die Frage offen.

Mirnmt man, was im Roman geschildert wird, hin als wirkliches Er>
lebnis gleich dem des ersten Teils — und das liegt trotz auftauchender
Symbolik, Phantasie, trotz dem widersprüchlichen Ende, trotz der wahrhaft
unirdischen Steigerungen der Leidenschaft und des Gedanklichen vollkommen
nahe! — so wäre gewiß: Was da geschieht, ist keine „Geburt des Lebens"
im Sinne des ersten Romanteils und der von ihm erweckten Erwartungen;
sondern ein Abbiegen von der Linie und der „Ausweg ins Zeitlose. . ."
Manche werden solchen Doppelfreitod dann als sentimental, Einige als
Frevel, ELliche als pathetisch oder als Notlösung empfinden. Er wäre
freilich nichts von alledem! Ia, man könnte erwidern: Gerade dieser
Roman, wie „Romeo und Iulia", wie „Tristan und Isolde" vor ihm,
offenbart es wieder dem, der willig in das Labyrinth mitfolgt: Solche Lösung
ist nicht sentimental, denn die harte und große Leidenschaft, die unwissent-
lich die tiefste Furcht bricht, hat nichts mit „Sentiment" und kleinen
Weichgefühlen zu schaffen. Sie ist nicht Frevel, denn nur das letzte Recht
nehmen die tragisch Verstrickten in Anspruch — sie haben keinen Richter,
es sei denn einer, dem wir nicht vorzugreifen hätten, weil sein Wille uns
nicht bekannt wäre und auch in solchem Geschick sich vollzöge. Sie ist
nicht pathetisch, sondern still und schlicht. Sie ist keine „Rotlösung", son-
dern eine S o nd e r l ö s un g; sie i st „Lösung", denn wahrhaftig und not--
wendig erwächst von je in vereinzelten Menschenpaaren eine uns nur von
ferne zugängliche Glaubensgewißheit, daß unzweifelhaft höheres Leben jen»
seits der Schranke wartet; sie fliehen nicht, sondern sie suchen mutig und
gläubig an anderem Weltenort; sie fallen nicht, sie schreiten hinaus.
Wohl glauben Wenige an dieses, und die Vielen sind nicht zu überreden;
auch ist das meines Amtes nicht. Wohl lautet das unverbrüchliche, aber
von Ausnahmen auch nicht gefährdete Gesetz der Menschheit nicht aus
Freitod; es gebietet Leben: tzervorbringen, Zeugen, Absinken. Doch kein
Gesetz erfüllt sich je vollkommen. Ein jegliches erleidet Ausnahmen; und
in letzter Paradoxie sind auch diese „gesetzmäßig"! Trentinis Roman aber,
so wie Hier aufgefaßt, mündet nicht in zufälligen Sonderfall, sondern nach
eben jener jenseitgesehlichen Gesetzmäßigkeit nicht in unverantwortlichem
Erleiden, sondern in höchstbewußter Wahl.

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