Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 25.1982

DOI Heft:
Nr.1
DOI Artikel:
Nickel, Rainer: Ist Latein keine Fremdsprache?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33081#0011

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
zwischen alt- und neu-sprachlichem Unterricht; das „Problem“ ist vielmehr die
Existenz des Französischunterrichts. Christ glaubt, diese sei durch den Latein-
unterricht gefährdet. Der Hebel, den Christ „namentlich“ gegen den Latein-
unterricht ansetzt, um das Französische durch schlichte Eliminierung des La-
teinischen zu retten, ist grob geschmiedet: Latein sei gar keine Fremdsprache.
Deshalb sei es falsch, Schüler vor die Wahl zu stellen, ob sie das eine oder das
andere Angebot annehmen wollten. Latein dürfe nicht als zweite Fremdsprache
in Konkurrenz zu Französisch treten. Nur wenn man Latein bestreite, eine
Fremdsprache zu sein, könne man verhindern, daß „der Lateinunterricht
faktisch eine große Zahl von Gymnasiasten vom Erwerb einer zweiten moder-
nen Fremdsprache abhält“ (S. 182). Die alten Sprachen hätten ihren didakti-
schen Ort in der Nähe des Deutschunterrichts und der gesellschaftswissenschaft-
lich-historischen Fächer. Die modernen Fremdsprachen stellten demgegenüber
ein selbständiges Aufgabenfeld dar, das mit einem eigenen Stundendeputat aus-
zustatten sei. Diese Abgrenzung gegenüber dem altsprachlichen Unterricht biete
die einzige Möglichkeit, den „heute noch anhaltenden Erfolg des Lateinischen
als eines Massenfaches in den Gymnasien“ zu unterbinden, damit möglichst
alle Schüler eines jeden Jahrganges Französisch lernten.
Aber ist „die unglückliche Konkurrenzsituation, die sich in den Gymnasien
mit dem Lateinischen ergibt“ (S. 84), wirklich so unglücklich und nur dadurch
zu beseitigen, daß man die konkurrierende Fremdsprache einfach zur Nicht-
Fremdsprache erklärt? Christ versucht, seine Meinung mit einigen „Thesen zum
Problem der Abgrenzung von alten Sprachen und modernen Fremdsprachen“
zu begründen (S. 179—187). Diese „Thesen“ können jedoch kaum einen An-
spruch auf Seriosität erheben, da sie weder Ausgangspunkt noch Anlaß einer
Argumentation gegen den Fremdsprachencharakter des Lateinischen sind, son-
dern der nachträglichen Rechtfertigung eines schulsprachenpolitischen Kraft-
aktes dienen sollen. Außerdem — was ungleich wichtiger ist — werden die
„Thesen“ nur der einen Seite des „Problems“ einigermaßen gerecht: „Alte
Sprachen“ und „Moderne Fremdsprachen“ werden als Unterrichtsgegenstände
in ihrem didaktischen Wert verglichen. Die pädagogische Seite der Fremd-
sprachenwahl bleibt dagegen völlig unberücksichtigt. (Denselben Vorwurf hatte
Holtermann gegen die „Homburger Empfehlunen“ erhoben.) Die Entscheidung
zwischen den Fremdsprachen Lateinisch und Französisch ist in der Praxis des
Unterrichtsalltags erst in zweiter Linie mit didaktischen oder gar sprachenpoli-
tischen Überlegungen herbeizuführen und zu verantworten. Ausschlaggebend ist
stets die Antwort auf die Frage: „Welche Fremdsprache ist für welchen Schüler
das günstigere Lernangebot?“ Die Bewältigung der damit angesprochenen
Schwierigkeiten wird von der altsprachlichen Fachdidaktik seit langem intensiv
erörtert, und es gibt keinen Praktiker, der seinem Beratungsauftrag gerecht
würde, wenn er auf eine sorgfältige Beantwortung dieser Frage verzichtete. Wie
ernsthaft und gewissenhaft auf diesem Gebiet gearbeitet wird, zeigen einschlägi-
ge Untersuchungen zu den personalen Faktoren, den Fähigkeitsprofilen und
den Sprachlerntypen, an denen sich eine schülergerechte Fremdsprachenwahl

5
 
Annotationen