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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 31.1988

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Nr. 1
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Aufsatz
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Zimmermann, Herbert: Zur Gesamtbilanz der perikleischen Ära
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https://doi.org/10.11588/diglit.35869#0008

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gurtg, daß es dem Einzelnen nur dann Wohlergehen könne, wenn es dem Ganzen
wohlergehe. Darin lag aber weniger ein Verhältnis kühl kalkulierter Leistung und Ge-
genleistung, sondern vielmehr erlebte der Athener in der Betätigung im Staatsleben
auch die Entfaltung seiner Persönlichkeit. Er vollzog ein gewisses Maß an Selbsterzie-
hung, die nicht reflektiert und eigens intendiert wurde, sondern sich in der Beziehung
zwischen Staatsleben und persönlicher Haltung spontan ergab. Das wird deutlicher,
wenn wir bedenken, daß der Athener in Volksversammlung, Volksrat und Volksge-
richt den Staat selbst regierte und nicht etwa einer Regierung diente. Er war der Souve-
rän. Reform des Staates war auch für Platon primär Reform des Staatslebens^. Sogar
noch in hellenistischer Zeit führte die Idee dieses Staatslebens eine philosophische
Schule zu der Aussage, daß der Mensch von Natur aus zur Gemeinschaft tendiere und
für sie veranlagt sei. Diese Aussage machte die Stoa zu einer Zeit, als der Individualis-
mus sich allmählich ausbreitete.
Der /ndivfdua/ßmus
In dieses bisher unreflektierte und unangezweifelte Engagement für das Staatsleben
drang nun die Tendenz zu politischer Mündigkeit. Die Demokratie verlangte Urteilsfä-
higkeit, Kenntnis des Antragsverfahrens, Durchschauen und Widerlegen der gegneri-
schen Argumentation, Treffsicherheit in der eigenen Argumentation etc. Es stärkte das
Selbstbewußtsein eines jeden Bürgers, wenn er nun sah, daß man aufseine persönli-
che Meinung großen Wert legte. Die kritisch abwägende Prüfung der eigenen Betäti-
gung in der Politik führte aber dazu, daß die Athener vom Staatsleben inneren Abstand
gewinnen mußten. Ein weiteres Aufgehen in demjenigen Gegenstand, der nun Objekt
der klaren verstandesmäßigen Erkenntnis und scharfen gedanklichen Durchdringung
werden sollte, hätte zu keinem unvoreingenommenen und abgewogenen Urteil ge-
führt. Die sich jetzt in den Athenern vollziehende Verbindung des Engagements mit
der Rationalität mußte die bisherige Haltung und Einstellung ändern. Die erkennende
und beurteilende Vernunft des Bürgers emanzipierte sich aus dem bisher für selbstver-
ständlich gehaltenen Staatsleben und sah sich diesem gegenüber als eine autonome
Instanz. Alles aber, was dem Erstarken der Vernunft diente, diente zum Teil auch der
allmählichen Zerfaserung der Lebensweise. Wer hier nur vom Fortschritt sprach, war
sehr einseitig. Denn eimMenschentyp, der sich unter Berufung auf seine freie Vernunft
und nach eigenem Ermessen dem Staat entziehen konnte und als Einzelner leben
wollte, entzog dem Staatsleben die innere Kraft.
Hinter dieser Emanzipation der Vernunft steckte aber auch der stolze Anspruch, daß
das Individuum ohne Bindungen an eine gelebte Staatsmoral, überhaupt ohne irgend-
welche vorgegebene Orientierungspunkte und ohne irgendeine Ausrichtung sein Le-
ben gestalten und beliebig verändern könne. Gefördert wurde dieser Prozeß durch
das Werturteil des Protagoras, das er in seiner Unterrichtstätigkeit durchklingen ließ:
Der Vernunft gebührt der Primat. Gefördert haben ihn noch mehr die späteren Sophi-
sten. Sie alle aber hätten in Athen nicht Fuß fassen können, wären sie nicht auf den
Wandlungsprozeß des Atheners zum mündigen Staatsbürger gestoßen und von der
Stadt aufgenommen worden.
Die Idee des Individualismus trat gegen die Idee des Etatismus an. Sie fand aber nicht
nur * ' " , . , . . ,. ' hin das Staatsleben verteidigten, ent-

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