Otto Homburger
Auch an den Ostteilen des Großmünsters, die den geradeabschließenden, aus zwei ungleichen
quadratischen Jochen bestehende Chor und die darunterliegende, ebenfalls zweigeteilte Krypta1 (Textabb. i)
umfassen, läßt sich deutlich die Mitarbeit lombardischer Steinmetzen erkennen. Man beachte zunächst den
Schmuck der Kämpfer, auf denen der Chor und Langschiff trennende Triumphbogen aufsitzt (Taf. i, Abb. 2,
Taf. 5, Abb. 1 u. 3). Auf beiden Seiten wird die Schräge, die von Deckplatte und Rundstab eingefaßt ist, gefüllt
von einer wellenförmig verlaufenden Stielranke, die jeweils vor dem Umbiegen aus zweisträhniger Hülse einen
Zweig in entgegengesetzter Richtung zurückschickt. Dieser wird an seinem Ende in gleicherweise abgeschnürt
und löst sich danach auf in drei löffelförmige, schwach ausgehöhlte Rlätter, die den von Ranke und Zweig ge-
bildeten Kreis füllen; nach außen werden Trauben in den noch frei bleibenden Raum ausgesandt, außerdem
lösen sich kleine, hakenförmig gebogene Schößlinge vom Stiel der Ranke. Auf der nach dem Chor schauenden
Ecke der Kämpfer stehen beiderseits Vögel mit leicht geöffneten, tiefansetzenden Flügeln und langen
Hälsen; während einer von ihnen (auf der Nordostseite) den auffallend langen Schnabel abwärts senkt,
dreht sich der andere zur Seite, um an der nächsthängenden Traube zu picken. Dieses Tier mit den großen
ovalen Augen begegnet in der gleichen Haltung zweimal auf einem Kapitell der Krypta von St. Vittore
zu Muralto2 im Tessin (Lago Maggiore), nur mit dem Unterschied, daß an Stelle der Trauben rundliche
Blätter getreten sind, die in Form und Verknotung völlig den zuvor beschriebenen gleichen (Taf. 2, Abb. 6).
Auch die Wellenranke, die hakenförmige Schößlinge und Trauben aussendet, finden wir in Muralto
wieder (Taf. 2, Abb. 5), und schließlich tritt dort als Eckverzierung eines dritten Kapitells dei’ stilisierte Kopf
eines Wolfes auf, der mit seiner Stirnfurche, den Falten am Nasenbein und den gesträubten Schnurrbart-
haaren ein Gegenstück bildet zu den maskenartigen Gesichtern der zwrei am anderen Kämpfereck der Nordost-
seite sich begegnenden Raubtiere (Taf. 2, Abb. 2 u. 3). Noch prächtiger wirken durch Stilisierung und Aus-
druckskraft der Bewegungen die unbeholfenen Bestien am Eck der Gegenseite (Abb. 1). Fügen wir hinzu,
daß eine Blattpalmette, wie sie auf den Kapitellen von Muralto vorkommt, mehrfach wiederkehrt in der süd-
östlich des Zürich-Sees gelegenen Kirche von Schänis3 (Taf. 2, Abb. 5); selbst die beiden Blättchen, die den
Zwickel der tangierenden, zweisträhnigen Kreise füllen, stimmen schlagend überein. Um den Ring zu
schließen, sei darauf hingewiesen, daß einmal in Schänis der gleiche Kopf eines Raubtieres sich findet wie in
Zürich und Muralto (Taf. 2, Abb. 4) und daß an der Eingangswand der Großmünsterkrypta Wellenranken
begegnen, die der Füllung eines Gesimses in Schänis zum mindesten eng verwandt und stilgeschichtlich
gleichzusetzen sind (Taf. 3, Abb. 2). Auch das Spiralornament, das über zwei Würfelkapitellen der Münstergruft
hinläuft, hat seine Parallelen in der soeben genannten Kirche4. Es darf daraus geschlossen werden, daß
am Chor des Großmünsters und an dem Neubau der Kirche zu Schänis die gleichen Steinmetzen gearbeitet
haben wie in der Krypta der Kirche St. Vittore zu Muralto. Schließlich finden sich Analogien zu dem
Tierkopf und einem noch nicht erwähnten Adlerkapitell zu Muralto am Fensterschmuck der nach so vielen
1 Grundriß und Schnitte des Münsters: bei Rahn, Geschichte der bildenden Künste usw., S. 201, 203. — Dehio und
von Bezold, Kirchliche Baukunst des Abendlandes, Taf. 156, 158, 161. — Gurlitt a. a. O., S. 13/14. — Ganz a. a. O., S. 5—7.
Das Großmünster war nicht von West nach Ost, sondern von Nordwest nach Südost orientiert; statt nördl. Seiten-
schiff heißt es also nordöstl. Seitenschiff usw.
2 Über die Pfeilerbasilika S. Vittore zu Muralto s. Rahn, Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde XXV, 1892,
S. 128, 157 ff.
Wichtige Ornamentstücke im Museum, Locarno. Photograph. Aufnahmen von Gebr. Büchi, Locarno.
3 J. R. Rahn, Die Stiftskirche von Schänis, Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde N. F. XIV, 1912, S. 59 ff.
4 A. a O., Abb. 22, 24.
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Auch an den Ostteilen des Großmünsters, die den geradeabschließenden, aus zwei ungleichen
quadratischen Jochen bestehende Chor und die darunterliegende, ebenfalls zweigeteilte Krypta1 (Textabb. i)
umfassen, läßt sich deutlich die Mitarbeit lombardischer Steinmetzen erkennen. Man beachte zunächst den
Schmuck der Kämpfer, auf denen der Chor und Langschiff trennende Triumphbogen aufsitzt (Taf. i, Abb. 2,
Taf. 5, Abb. 1 u. 3). Auf beiden Seiten wird die Schräge, die von Deckplatte und Rundstab eingefaßt ist, gefüllt
von einer wellenförmig verlaufenden Stielranke, die jeweils vor dem Umbiegen aus zweisträhniger Hülse einen
Zweig in entgegengesetzter Richtung zurückschickt. Dieser wird an seinem Ende in gleicherweise abgeschnürt
und löst sich danach auf in drei löffelförmige, schwach ausgehöhlte Rlätter, die den von Ranke und Zweig ge-
bildeten Kreis füllen; nach außen werden Trauben in den noch frei bleibenden Raum ausgesandt, außerdem
lösen sich kleine, hakenförmig gebogene Schößlinge vom Stiel der Ranke. Auf der nach dem Chor schauenden
Ecke der Kämpfer stehen beiderseits Vögel mit leicht geöffneten, tiefansetzenden Flügeln und langen
Hälsen; während einer von ihnen (auf der Nordostseite) den auffallend langen Schnabel abwärts senkt,
dreht sich der andere zur Seite, um an der nächsthängenden Traube zu picken. Dieses Tier mit den großen
ovalen Augen begegnet in der gleichen Haltung zweimal auf einem Kapitell der Krypta von St. Vittore
zu Muralto2 im Tessin (Lago Maggiore), nur mit dem Unterschied, daß an Stelle der Trauben rundliche
Blätter getreten sind, die in Form und Verknotung völlig den zuvor beschriebenen gleichen (Taf. 2, Abb. 6).
Auch die Wellenranke, die hakenförmige Schößlinge und Trauben aussendet, finden wir in Muralto
wieder (Taf. 2, Abb. 5), und schließlich tritt dort als Eckverzierung eines dritten Kapitells dei’ stilisierte Kopf
eines Wolfes auf, der mit seiner Stirnfurche, den Falten am Nasenbein und den gesträubten Schnurrbart-
haaren ein Gegenstück bildet zu den maskenartigen Gesichtern der zwrei am anderen Kämpfereck der Nordost-
seite sich begegnenden Raubtiere (Taf. 2, Abb. 2 u. 3). Noch prächtiger wirken durch Stilisierung und Aus-
druckskraft der Bewegungen die unbeholfenen Bestien am Eck der Gegenseite (Abb. 1). Fügen wir hinzu,
daß eine Blattpalmette, wie sie auf den Kapitellen von Muralto vorkommt, mehrfach wiederkehrt in der süd-
östlich des Zürich-Sees gelegenen Kirche von Schänis3 (Taf. 2, Abb. 5); selbst die beiden Blättchen, die den
Zwickel der tangierenden, zweisträhnigen Kreise füllen, stimmen schlagend überein. Um den Ring zu
schließen, sei darauf hingewiesen, daß einmal in Schänis der gleiche Kopf eines Raubtieres sich findet wie in
Zürich und Muralto (Taf. 2, Abb. 4) und daß an der Eingangswand der Großmünsterkrypta Wellenranken
begegnen, die der Füllung eines Gesimses in Schänis zum mindesten eng verwandt und stilgeschichtlich
gleichzusetzen sind (Taf. 3, Abb. 2). Auch das Spiralornament, das über zwei Würfelkapitellen der Münstergruft
hinläuft, hat seine Parallelen in der soeben genannten Kirche4. Es darf daraus geschlossen werden, daß
am Chor des Großmünsters und an dem Neubau der Kirche zu Schänis die gleichen Steinmetzen gearbeitet
haben wie in der Krypta der Kirche St. Vittore zu Muralto. Schließlich finden sich Analogien zu dem
Tierkopf und einem noch nicht erwähnten Adlerkapitell zu Muralto am Fensterschmuck der nach so vielen
1 Grundriß und Schnitte des Münsters: bei Rahn, Geschichte der bildenden Künste usw., S. 201, 203. — Dehio und
von Bezold, Kirchliche Baukunst des Abendlandes, Taf. 156, 158, 161. — Gurlitt a. a. O., S. 13/14. — Ganz a. a. O., S. 5—7.
Das Großmünster war nicht von West nach Ost, sondern von Nordwest nach Südost orientiert; statt nördl. Seiten-
schiff heißt es also nordöstl. Seitenschiff usw.
2 Über die Pfeilerbasilika S. Vittore zu Muralto s. Rahn, Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde XXV, 1892,
S. 128, 157 ff.
Wichtige Ornamentstücke im Museum, Locarno. Photograph. Aufnahmen von Gebr. Büchi, Locarno.
3 J. R. Rahn, Die Stiftskirche von Schänis, Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde N. F. XIV, 1912, S. 59 ff.
4 A. a O., Abb. 22, 24.
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