Ein frühes Werk des Meisters der Straßburger Ekklesia
Augen des Meisters geschaffen wurde (Schmitt 10, 29 ff.), genügt, die enge Zusammengehörigkeit unserer
„Büsten“ mit den besten Straßburger Stücken deutlich zu machen.
Aber, ich leugne nicht, wichtiger, überzeugender als all dies war und ist mir der unmittelbare
erste Eindruck der drei Köpfe: das Zarte, man darf sagen Jugendliche in diesem Schaffen, der anbrechende
Tag einer ganz großen Kunst; die feine Kunst individueller Beseelung; die verhaltene Leidenschaft; der
schwellende, vielseitig bewegte Körper unter dem aufliegenden Gewand; und noch einmal: das besondere
Leben eines jeden der drei Stücke. Wer vereinigt diese Züge in der herrlichen Kunst des frühen
13. Jahrhunderts auch nur annähernd so wie der Meister der Straßburger Ekklesia?!
Sind wir überzeugt, daß das Portal der Ste. Madeleine in Besannen ein Werk des Straßburger
Meisters war, so haben wir nun endlich noch zu fragen: was gewinnen wir aus dieser Einsicht für das
Gesamtbild des Künstlers. Es bestätigt sich: er kennt Chartres genau, dort hat er sich gebildet. Und
zwar gehören auch die späten Stücke dort (die Verkündigung, die Visitatio im Portal links an der Nord-
seite) zu den Voraussetzungen seines Stils. Diese Grundlage hat er nie ganz hinter sich gelassen: die
freie, sichere Ponderation des Körpers, die Entlastung des einen Beins kennt er nicht. Das ist das Erbe
von Chartres. Immerhin, was Chartres in dieser Hinsicht erreichte: „Ansätze zu einer stärkeren Beugung
des einen Knies vor dem anderen“, das schreitende Stehen und das „Präludieren des Gewandes“1, das eine
stärkere Bewegung des Körpers vortäuscht, vorausnimmt, das erreichte er auch. Die Zeichnungen der
Portale in Besannen und Straßburg beweisen das.
Vöge hat wiederholt2 den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Kunst von Chartres hervor-
gehoben. Trotzdem will es nicht gelingen, unseren Straßburger Meister enger mit einer der Stilgruppen,
die an den Querhausportalen zu Chartres faßbar werden, zu verknüpfen. Das darf uns aber doch nicht
verleiten, die Bedeutung, die Chartres für ihn gehabt hat, herabzusetzen. Man muß zugeben, die Anlage
der Köpfe ist durchschnittlich in Chartres anders als in Besangon und Straßburg. Immerhin kommen
in Chartres neben den vorherrschenden langen Gesichtern mit den langen schmalen Nasen auch andere
vor. Und Einzelheiten sind sehr oft geradezu identisch3. Offenbar hat sich unser Meister sehr bald
seinen eigenen Kopftypus gebildet. Ob und wie weit er dabei noch anderen Anregungen verpflichtet ist
als denen, die ihm Chartres bieten konnte, lasse ich dahingestellt. Daß er in formalen Einzelheiten von
den Manieren abhängig ist, die er in Chartres kennenlernte, ist mir zweifellos.
Mit der Hauptsache, mit seiner Selbständigkeit, seinem Weiterschreiten, seinem Temperament
hat das nichts zu tun. Wie stark fühlt man doch selbst der kümmerlichen Zeichnung unseres Portals
1 Vöge, Vom gotischen Schwung usw. Repert. f. Kunstwissenschaft 27, 1904, S. iff.
2 In dem eben genannten Aufsatz und in dem noch reicheren über die Bahnbrecher des Naturstudiums um 1200.
Z. f. b. K. 25, 1914, S. 193fr.
3 Man vergleiche etwa die Mundbildung und das Haar. Hierzu ein paar Notizen: mit den Lockenspiralen des
Melchisedek in Besancon (Taf. 55) vergleiche Houvet Sud I, 19; mit dem Bart des Melchisedek Houvet Sud I, 24 und
Nord I, 69, 71. Das seitliche Wegstreben der Haarlocken vom Gesicht (Moses, Samuel in Besancon, aber auch noch in
Straßburg: Schmitt 13) findet sich wieder Houvet Sud I, 16,33, 36; Nord I, 60, 70. Was bei weiteren Vergleichen zumeist
stört, ist die Tatsache, daß in Chartres das Haar durchschnittlich in feinere drahtartige Strähnen zerlegt ist, während
unser Meister aus derberen Strähnen plastischere Locken bildet, die sich energischer voneinander sondern. Es fehlen
aber auch in Chartres die plastischen Locken nicht (Houvet Nord I, 59). Und wenn wir diese Manier auf die sym-
metrisch geteilten und geordneten (überaus zahlreichen) Prachtbärte in Chartres übertragen, so haben wir genau die
Bärte unserer Propheten in Besancon. Endlich mag man noch Haar und Bart des Straßburger Apostels Schmitt 14 (links)
mit Houvet Sud I, 30 vergleichen.
11
147
Augen des Meisters geschaffen wurde (Schmitt 10, 29 ff.), genügt, die enge Zusammengehörigkeit unserer
„Büsten“ mit den besten Straßburger Stücken deutlich zu machen.
Aber, ich leugne nicht, wichtiger, überzeugender als all dies war und ist mir der unmittelbare
erste Eindruck der drei Köpfe: das Zarte, man darf sagen Jugendliche in diesem Schaffen, der anbrechende
Tag einer ganz großen Kunst; die feine Kunst individueller Beseelung; die verhaltene Leidenschaft; der
schwellende, vielseitig bewegte Körper unter dem aufliegenden Gewand; und noch einmal: das besondere
Leben eines jeden der drei Stücke. Wer vereinigt diese Züge in der herrlichen Kunst des frühen
13. Jahrhunderts auch nur annähernd so wie der Meister der Straßburger Ekklesia?!
Sind wir überzeugt, daß das Portal der Ste. Madeleine in Besannen ein Werk des Straßburger
Meisters war, so haben wir nun endlich noch zu fragen: was gewinnen wir aus dieser Einsicht für das
Gesamtbild des Künstlers. Es bestätigt sich: er kennt Chartres genau, dort hat er sich gebildet. Und
zwar gehören auch die späten Stücke dort (die Verkündigung, die Visitatio im Portal links an der Nord-
seite) zu den Voraussetzungen seines Stils. Diese Grundlage hat er nie ganz hinter sich gelassen: die
freie, sichere Ponderation des Körpers, die Entlastung des einen Beins kennt er nicht. Das ist das Erbe
von Chartres. Immerhin, was Chartres in dieser Hinsicht erreichte: „Ansätze zu einer stärkeren Beugung
des einen Knies vor dem anderen“, das schreitende Stehen und das „Präludieren des Gewandes“1, das eine
stärkere Bewegung des Körpers vortäuscht, vorausnimmt, das erreichte er auch. Die Zeichnungen der
Portale in Besannen und Straßburg beweisen das.
Vöge hat wiederholt2 den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Kunst von Chartres hervor-
gehoben. Trotzdem will es nicht gelingen, unseren Straßburger Meister enger mit einer der Stilgruppen,
die an den Querhausportalen zu Chartres faßbar werden, zu verknüpfen. Das darf uns aber doch nicht
verleiten, die Bedeutung, die Chartres für ihn gehabt hat, herabzusetzen. Man muß zugeben, die Anlage
der Köpfe ist durchschnittlich in Chartres anders als in Besangon und Straßburg. Immerhin kommen
in Chartres neben den vorherrschenden langen Gesichtern mit den langen schmalen Nasen auch andere
vor. Und Einzelheiten sind sehr oft geradezu identisch3. Offenbar hat sich unser Meister sehr bald
seinen eigenen Kopftypus gebildet. Ob und wie weit er dabei noch anderen Anregungen verpflichtet ist
als denen, die ihm Chartres bieten konnte, lasse ich dahingestellt. Daß er in formalen Einzelheiten von
den Manieren abhängig ist, die er in Chartres kennenlernte, ist mir zweifellos.
Mit der Hauptsache, mit seiner Selbständigkeit, seinem Weiterschreiten, seinem Temperament
hat das nichts zu tun. Wie stark fühlt man doch selbst der kümmerlichen Zeichnung unseres Portals
1 Vöge, Vom gotischen Schwung usw. Repert. f. Kunstwissenschaft 27, 1904, S. iff.
2 In dem eben genannten Aufsatz und in dem noch reicheren über die Bahnbrecher des Naturstudiums um 1200.
Z. f. b. K. 25, 1914, S. 193fr.
3 Man vergleiche etwa die Mundbildung und das Haar. Hierzu ein paar Notizen: mit den Lockenspiralen des
Melchisedek in Besancon (Taf. 55) vergleiche Houvet Sud I, 19; mit dem Bart des Melchisedek Houvet Sud I, 24 und
Nord I, 69, 71. Das seitliche Wegstreben der Haarlocken vom Gesicht (Moses, Samuel in Besancon, aber auch noch in
Straßburg: Schmitt 13) findet sich wieder Houvet Sud I, 16,33, 36; Nord I, 60, 70. Was bei weiteren Vergleichen zumeist
stört, ist die Tatsache, daß in Chartres das Haar durchschnittlich in feinere drahtartige Strähnen zerlegt ist, während
unser Meister aus derberen Strähnen plastischere Locken bildet, die sich energischer voneinander sondern. Es fehlen
aber auch in Chartres die plastischen Locken nicht (Houvet Nord I, 59). Und wenn wir diese Manier auf die sym-
metrisch geteilten und geordneten (überaus zahlreichen) Prachtbärte in Chartres übertragen, so haben wir genau die
Bärte unserer Propheten in Besancon. Endlich mag man noch Haar und Bart des Straßburger Apostels Schmitt 14 (links)
mit Houvet Sud I, 30 vergleichen.
11
147