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Oberrheinische Kunst — 3.1928

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Schmitt, Otto: Die Friedberger Lettnermadonna
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https://doi.org/10.11588/diglit.53860#0166

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Otto Schmitt / Die Friedberger Lettnermadonna

hängigen Apostelstatuen der St. Chapelle waren bei der Weihe der Kapelle im Jahre 1249 zweifellos vollendet,
die Madonna am nördlichen Querschiff-Portal der Pariser Kathedrale ist wahrscheinlich schon vor 1257, dem
Baubeginn des etwas fortgeschrittenen Südtransepts, entstanden, und für die Vierge doree in Amiens ist das oft
genannte Jahr 1269 nur ein Terminus post quem non, der durch die Marburger Portalmadonna bestätigt
würde, auch wenn kein unmittelbarer Zusammenhang vorliegen sollte1. Ich entscheide mich also dafür, das die
Vierge de la Ste. Chapelle, d. h. die heute im Louvre aufbewahrte Elfenbeinstatuette, spätestens in den
70er Jahren, wahrscheinlich aber schon etwas vor 1270 entstanden ist. Elfenbeinmadonnen vom Typ und
der Stilstufe der Vierge de la St. Chapelle sind in mehreren Beispielen auf uns gekommen, wenn auch keine
zweite ihre künstlerische Vollendung erreicht2 3. Daß solche Statuetten nach Deutschland gelangten (wie
sie auch nach Spanien, Frankreich, England, Italien kamen) müßte man annehmen, selbst wenn es nicht
ausdrücklich überliefert wäre. Aber wir wissen, daß eine noch heute in der österreichischen Abtei Zwettl
aufbewahrte französische Madonnenstatuette aus Elfenbein (Taf. 62, Abb. 3) von Abt Bohuslaw (1248—125g)
de superioribus partibus Francie mitgebracht wurde8. Sicher kam das noch häufiger vor, denn die französischen
Elfenbeinschnitzereien waren im 13. und 14. Jahrhundert berühmt und wurden von aller Welt begehrt4.
Zahlreiche Exemplare finden sich in alten deutschen Kirchenschätzen, und manches davon mag durch
einen reisenden Prälaten oder in Paris studierenden jungen Edelmann unmittelbar im Atelier des Schnitzers
erworben sein. Daß die sicher auf spätestens 125g datierte Madonna von Zwettl dem Typ der Vierge de
la Ste. Chapelle angehört, wenn sie auch vielleicht ein etwas älteres Stadium der Entwicklung vertritt, ist
für unsere Datierung der ganzen Gruppe eine wertvolle Stütze5 6. Natürlich liegt es mir fern, nun alle
deutschen Madonnen der Wimpfen-Friedberger Gattung auf importierte Elfenbeinstatuetten zurückführen zu
wollen. Für den Wimpfener Bildhauer glaube ich, nicht zuletzt wegen der geschichtlichen Überlieferung,
daß er persönlich in Frankreich gewesen ist. Aber daß die eine oder andere deutsche Muttergottesfigur
des Friedberger Typus von französischen Elfenbeinstatuetten angeregt sei, halte ich zum mindesten für
möglich8. Daß dabei keine geistlosen und äußerlichen Kopien entstanden sind, braucht kaum bewiesen
zu werden. In Wimpfen ist es ein Zug heroischer Größe und unnahbarer Zurückhaltung, in Fried-
berg urwüchsige Menschlichkeit und ans Bäuerische streifende Erdennähe, die zwei verschiedene, aber
zugleich typische Formen deutscher Kritik an der aristokratischen Gelassenheit vieler französischer Kunst-
werke offenbaren7.

1 Wie Hamann und Wilhelm-Kästner S. 25/26 meinen. Vgl. dagegen Panofsky S. 171.
2 Koechlin, Taf. XXV, Nr. 67, XXVI, Nr. 73—75, XXIX, Nr. 96. Vgl. auch die Madonna der Sammlung Hainauer
im Deutschen Museum Berlin (Kat. Volbach, Taf. 42, Nr. 2113).
3 Koechlin Nr. 62, Bd. II, p. 29/50. Die kleinen Begleitfiguren, von denen eine auch in unserer Abbildung sichtbar
ist, gehören ursprünglich nicht zur Madonna.
4 Dehio, Geschichte der deutschen Kunst II, S. 83: »Sicher ist, daß der Import französischer Elfenbeine und
anderer Werke der Kleinkunst niemals so im Schwünge war wie in der letzten Zeit des 13., der ersten des 14. Jahrhunderts«.
B Eine weitere: Die Madonna am Schrein von Nivelles, der 1272 begonnen wurde, Abb. Lüer und Creutz, Ge-
schichte der Metallkunst II, 1909, S. 234.
6 Man darf annehmen, daß auch für die deutsche Stilbildung des frühen 14. Jahrhunderts die französischen Elfenbein-
schnitzereien (besonders Reliefs) und sonstige Werke der Kleinkunst von Bedeutung waren. Man vgl. einmal das Reliquiar
von Floreffe im Louvre mit dem Oberwesler Hochaltar,
7 Viel französischer wirkt dagegen, soweit die Abbildung ein Urteil erlaubt, eine Madonna in Wiener Privat-
besitz, die Franz Kieslinger im Belvedere IV, 1923, S. 98, Nr. 11 veröffentlicht. Kieslinger weist hier ebenfalls auf die
Vermittlerrolle von Elfenbeinstatuetten hin.
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