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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 1.1921

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Heft 1
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Schickele, René: Für Marie Laurencin
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https://doi.org/10.11588/diglit.62259#0079

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und die armen Teufel regimenterweise nach dem Jenseits ver-
frachtete?
So war die Wirklichkeit, die Wirklichkeit von Schritt und
Stand, von Schlafen und Wachsein, die Wirklichkeit von Millionen
Menschen, über Millionen Quadratkilometer hin. Schamlos hurte
die Gewalt sich in jedes Gebein und zerbrach, was widerstand.
Millionen Christenmenschen liessen sich, wie vom Dresseur über-
anstrengte Affen, auf ihre Vorderbeine fallen, auf brüllend im Glück
der wiedergefundenen vierfachen Berührung mit dem Jagdgrund
der Erde.
Es erwies sich, dass die Zeitgenossen alle Menschenfresser
und Irrsinnige waren. Denn statt die langschwänzigen Kavaliere,
als sie mit Hurra auf Raub loszogen, in einer Anstalt zu verwahren,
liessen sie ihre Heiligsprechung geschehn und hingen sich, zur
Fahrt nach Walhall, an ihren Schwanz.
Damals, als es für uns kein andres Stelldichein gab, als wo
die so unschuldigen Wölfe einander Gute Nacht sagten, mussten
wir zusammenstehn, um nicht den letzten Glauben an die Gattung
zu verlieren. Es genügte nicht, dass man seine Gurgel in Sicher-
heit brachte. Man musste auf der Hut sein, dass man sich nicht
aufhängte. Dafür brauchte man Kameraden.
Heute hat man zusammenzustehn, weil es gilt, im Gebell und
in den herumfliegenden Schaumflocken des Ressentiments eine
Jungwelt zu bauen, mit leisen Händen, umsichtig und doch hin-
gegeben, wie Kinder bauen. Nicht für den Ruhm und nicht für
den Gewinn. Für die eigne Erhaltung und Besserung. Für die
Kinder sodann, die in der Zeichnung, im Farbton, im Klang und
im Rhythmus ungeboren leben. Denn gewiss ist der Sinn der
Kunst, wenn anders Kunst einen Sinn hat: Menschen zu schaffen
nach ihrem Ebenbild, ein Geschlecht, das ihr gleich sei.
* *
*
Als wir, mit Marie Laurencin, die Walliser Weinstube ver-
liessen, zitterte die Limmat um die Lichtpfähle, die in den Ab-
grund die Laternen bohrten, zitterten die Sterne, fiel von den
Türmen der Glockenschlag, ein ausgeworfenes Lot, in die treibende
Stunde.
Noch immer ist Krieg.
Rene Schickele

( Vorwort zu der fast vergriffenen Mappe „Sommer“)
 
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