PARISER BRIEF
Sehr geehrter Herr Flechtheim!
Ich lese eben in Ihrem amüsanten „Querschnitt“ die Mittei-
lung, dass ich mich nach Paris begeben habe, um den Wert des
Grautoffschen Buches über die französische Malerei nachzuprüfen.
Imstande dazu wäre ich schon; ich glaube von mir behaupten zu
FERNAND LEGER
Bei der Toilette (Ölg.)
dürfen, ein so gewissenhafter Redak-
teur zu sein, dass ich, um meine
Leser zu unterrichten, es nicht
unterlassen würde, eine Reise —
gar eine so überaus angenehme
Reise — zu unternehmen. Aller-
dings, wenn man, um jedes schlechte
Buch zu besprechen, 24 Stunden
den D-Zug frequentieren müsste,
wohin sollte man da kommen?
Dann hätten Zeitungen und Zeit-
schriften sich äusser dem Sitz-
redakteur noch einen Rundreise-
redakteur zu halten.
Da Sie mit Ihrem „Querschnitt“
und Ihren Ausstellungen sich so
eifrig um Unterrichtung über die
französische Kunstentwicklung
mühen, so will ich Ihnen genau sagen, wie es um dieses Grautoff-
sche Buch bestellt ist. In meiner Jugend gab es in Göttingen einen
Professor, der grosses Aufsehen erregte mit seinen Wetterprophe-
zeihungen. Allerdings hatte er das Pech, dass seine Voraussagen
fast niemals eintrafen. Dagegen gab es auf dem Eichsfeld einen
alten Schäfer, der auch das Wetter prophezeihte und fast immer
recht hatte. Nahm also eines Tages unser Professor seinen Regen-
schirm und machte sich auf, um ihn zu interpellieren. Auf einem
Stoppelfeld fand er ihn, inmitten seiner Herde, an einem Wollstrumpf
strickend. „Lieber Mann,“ rief er ihn an, „sind Sie es nicht, der
hier immer das Wetter prophezeiht? Welches System haben Sie
eigentlich?“ „System-?“ „Nun ja, ich meine, nach welcher
Theorie-“ Und nachdem er ihm des Langen und Breiten
auseinandergesetzt hatte, was es mit System und Theorie auf sich
habe, sagte der: „Ach so! Das ist ganz einfach. Wissen Sie, da
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Sehr geehrter Herr Flechtheim!
Ich lese eben in Ihrem amüsanten „Querschnitt“ die Mittei-
lung, dass ich mich nach Paris begeben habe, um den Wert des
Grautoffschen Buches über die französische Malerei nachzuprüfen.
Imstande dazu wäre ich schon; ich glaube von mir behaupten zu
FERNAND LEGER
Bei der Toilette (Ölg.)
dürfen, ein so gewissenhafter Redak-
teur zu sein, dass ich, um meine
Leser zu unterrichten, es nicht
unterlassen würde, eine Reise —
gar eine so überaus angenehme
Reise — zu unternehmen. Aller-
dings, wenn man, um jedes schlechte
Buch zu besprechen, 24 Stunden
den D-Zug frequentieren müsste,
wohin sollte man da kommen?
Dann hätten Zeitungen und Zeit-
schriften sich äusser dem Sitz-
redakteur noch einen Rundreise-
redakteur zu halten.
Da Sie mit Ihrem „Querschnitt“
und Ihren Ausstellungen sich so
eifrig um Unterrichtung über die
französische Kunstentwicklung
mühen, so will ich Ihnen genau sagen, wie es um dieses Grautoff-
sche Buch bestellt ist. In meiner Jugend gab es in Göttingen einen
Professor, der grosses Aufsehen erregte mit seinen Wetterprophe-
zeihungen. Allerdings hatte er das Pech, dass seine Voraussagen
fast niemals eintrafen. Dagegen gab es auf dem Eichsfeld einen
alten Schäfer, der auch das Wetter prophezeihte und fast immer
recht hatte. Nahm also eines Tages unser Professor seinen Regen-
schirm und machte sich auf, um ihn zu interpellieren. Auf einem
Stoppelfeld fand er ihn, inmitten seiner Herde, an einem Wollstrumpf
strickend. „Lieber Mann,“ rief er ihn an, „sind Sie es nicht, der
hier immer das Wetter prophezeiht? Welches System haben Sie
eigentlich?“ „System-?“ „Nun ja, ich meine, nach welcher
Theorie-“ Und nachdem er ihm des Langen und Breiten
auseinandergesetzt hatte, was es mit System und Theorie auf sich
habe, sagte der: „Ach so! Das ist ganz einfach. Wissen Sie, da
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