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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 1.1921

DOI issue:
Heft 6
DOI article:
Frans Masereel
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https://doi.org/10.11588/diglit.62259#0256

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ein erbarmungsloses System. Und er stirbt, nachdem er aus hin-
reissenden Blättern immer begeisterter das feierliche Bekenntnis zur
Internationale der Menschheit abgegeben, unter begreifenden Sternen
und Sonnen schliesslich an der Melancholie seines empfindsamenHerzens.
„Mon Livre dHeures“, im Jahr 1918 erschienen und unter
dem Albdruck der Katastrophe, die 1914 begann, entstanden, wirkt
aus seinen fast zweihundert Blättern nicht wie eine Geschichte, deren
Abwicklung von Zufällen abbängt, sich in irgendeiner Epoche so
oder anders hätte abspielen können, sondern als bindende Fest-
stellung der Gefühlsschwingungen eines Zeitgenossen zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts, eine Art „Education sentimentale“ von
heute, und als früheste umfassende Arbeit Frans Masereels schon
als Programm, das uns des Menschen und Künstlers Unbestechlich-
keit in alle Zukunft versichert.
Von nun an ist Masereel ganz von ihn anspringenden Zeitfragen
besessen, die er in schnell sich folgenden Werken „La Passion d’un
Homme“ (1918), „Le Soleil“ (1919), in tausend Zeichnungen für die
in Genf erscheinende radikal pazifistische Tageszeitung „La Feuille“
entwirft, technisch variiert und in der Form stets entfesselter als
Schlagworte und Signale wiederholt. In prallem Schwarz-Weiss
rüttelt er Umwelt durch sie zur Stellungnahme auf.
1920 erschien „Histoire sans Paroles“, eine Liebesgeschichte,
vielleicht das unerbittlichste und zarteste seiner Bücher, kurz darauf
„Idee“, die Tragödie des missverstandenen Gedankens, 1921 „Sou-
veniers de mon Pays“, sechzehn Holzschnitte, die uns so schlagend
Flanderns Charakter vermitteln, dass man bei diesen Blättern nicht
weiss, ob tiefer bewegt: Gewissenhaftigkeit der Betrachtung oder
des gefundenen Ausdrucks Gewalt.
Diese sechs Bände anspruchslosen Formats nehmen unter dem
bescheidenen Deckmantel von Bilderbüchern wenig Platz in unseren
Bücherschränken ein. Doch werden sie in der Geschichte der
Menschlichkeit eine entscheidende Rolle spielen und ein mächtiges
Gewicht in die Wagschale werfen, wenn endlich die Abrechnung
unseres Zeitalters beginnt. Wir fühlen vor, mehr als andere künst-
lerische Formulierungen sind sie unsere Ehrenrettung. Darum lieben
wir sie, verehren in ihnen die Gesinnung und ihren Schöpfer, den
Belgier Frans Masereel, als einen der wenigen Führer Europas,
denen wir uns rückhaltlos, blindlings und mit dem ganzen Enthusias-
mus unserer Hoffnung anvertrauen dürfen!
Thea Sternheim

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