0. Ollendorff: Der Laokoon und Michelangelo’s gefesselter Sklave. 113
Streben und Leiden in einem Augenblick vereinigt, dies ist auch das
Motiv des heroischen Gefangenen.2) Auch er ist gefesselt, wenngleich
nicht durch Schlangen, auch in ihm sehen wir eine grossartige Natur,
gewaltig ringend und gewaltig leidend, auch er ist sich klar bewusst,
dass sein Ringen nach Erlösung ein vergebliches Bemühen ist. Doch
handelt es sich nicht nur um eine Analogie des Grundmotivs. Im
Einzelnen bietet sich den Augen die ähnliche Stellung der Beine, die
Querstellung des Rumpfes — beim Gefangenen freilich viel schroffer
durchgeführt —• und endlich der nach aufwärts gewendete Kopf und
Blick.3) Wie der Priester, so sieht Michelangelo’s Erden-Gefangener zum
Himmel und indem bei Michelangelo das körperliche Leiden mehr
■ zurücktritt, wird das seelische Motiv dieses Blickens auf’s Tiefste und
Allseitigste im Ausdruck entwickelt. Die leidenschaftliche Gefangenen-
gestalt des Florentiners erscheint neben dem Laokoon ruhig; das er-
habene Leben in ihr tritt noch dringender hervor. Es ist nicht ohne
Berechtigung, wenn man sagt, dass der heroische Gefangene ein
zugleich gemässigter und erhöhter, rein geistig4) gedachter Laokoon sei. —
Man bemerke nun ferner, dass in dem jüngsten Sohn der Laokoongruppe
ein sich hingebendes Leiden dem heroischen Leiden des Vaters gegen-
über tritt. In gleichem Sinne hat Michelangelo in dem schlafenden Ge-
fangenen ein Gegenbild zu dem heroischen geschaffen. Die Analogie
zwischen dem jüngsten Sohn und dem schlafenden Gefangenen ist nicht
weitgehend, aber es ist eine auch in manchem Einzelnen nachweisbare
Analogie vorhanden. Vielleicht erwartet jetzt der verehrte Leser die Be-
hauptung, dass die Laokoongruppe auf Idee und Gestaltung der Gefangenen
entschiedenen Einfluss geübt habe. Jeder, der nachprüft, wird, denke ich,
die behaupteten Beziehungen bemerken, und alles Historische lässt sich
zur Aufstellung einer Beeinflussungs-Theorie scheinbar trefflich an. Im
3) Ueber die Bezeichnung des „gefesselten Sklaven“ als „heroischen Ge-
fangenen“ und über die Bedeutung dieser Gestalt und seiner Genossen am Julius-
denkmal vergl. Oscar Ollendorff, Michelangelo’s Gefangene im Louvre; die Studie
wird demnächst in der „Zeitschrift für bildende Kunst“ erscheinen.
3) Natürlich fehlt es auch nicht an Unterschieden. Der Gefangene steht,
Laokoon sitzt; doch ist gerade diese, dem Worte nach so wesentliche Unterschei-
dung nicht wesentlich für das Auge, weil sich nämlich das eigenthümliche Stel-
lungs-Motiv des Gefangenen dem Sitzen, das Sitzen des Laokoon aber dem Stehen
annähert. Bei der Haltung des Oberkörpers zeigt nur die Querstellung Ver-
wandtes, im Uebrigen sind die Bewegungen von Rumpf und Armen, hier durch
den Sprengversuch, dort durch den Schlangenbiss, bedingt und demgemäss von
einander abweichend. Das Niederzucken des Hauptes nach links fehlt mit seiner
ursächlichen Grundlage bei dem Gefangenen. Alle diese Unterschiede — und
welche immer man ihnen noch hinzufügen möchte — können die vorhandene
Analogie keineswegs aufheben.
4) Die körperliche Fesselung ist nur Symbol für irdische Fesseln, die
kein Seiler geflochten und kein Schmied gehämmert hat
Streben und Leiden in einem Augenblick vereinigt, dies ist auch das
Motiv des heroischen Gefangenen.2) Auch er ist gefesselt, wenngleich
nicht durch Schlangen, auch in ihm sehen wir eine grossartige Natur,
gewaltig ringend und gewaltig leidend, auch er ist sich klar bewusst,
dass sein Ringen nach Erlösung ein vergebliches Bemühen ist. Doch
handelt es sich nicht nur um eine Analogie des Grundmotivs. Im
Einzelnen bietet sich den Augen die ähnliche Stellung der Beine, die
Querstellung des Rumpfes — beim Gefangenen freilich viel schroffer
durchgeführt —• und endlich der nach aufwärts gewendete Kopf und
Blick.3) Wie der Priester, so sieht Michelangelo’s Erden-Gefangener zum
Himmel und indem bei Michelangelo das körperliche Leiden mehr
■ zurücktritt, wird das seelische Motiv dieses Blickens auf’s Tiefste und
Allseitigste im Ausdruck entwickelt. Die leidenschaftliche Gefangenen-
gestalt des Florentiners erscheint neben dem Laokoon ruhig; das er-
habene Leben in ihr tritt noch dringender hervor. Es ist nicht ohne
Berechtigung, wenn man sagt, dass der heroische Gefangene ein
zugleich gemässigter und erhöhter, rein geistig4) gedachter Laokoon sei. —
Man bemerke nun ferner, dass in dem jüngsten Sohn der Laokoongruppe
ein sich hingebendes Leiden dem heroischen Leiden des Vaters gegen-
über tritt. In gleichem Sinne hat Michelangelo in dem schlafenden Ge-
fangenen ein Gegenbild zu dem heroischen geschaffen. Die Analogie
zwischen dem jüngsten Sohn und dem schlafenden Gefangenen ist nicht
weitgehend, aber es ist eine auch in manchem Einzelnen nachweisbare
Analogie vorhanden. Vielleicht erwartet jetzt der verehrte Leser die Be-
hauptung, dass die Laokoongruppe auf Idee und Gestaltung der Gefangenen
entschiedenen Einfluss geübt habe. Jeder, der nachprüft, wird, denke ich,
die behaupteten Beziehungen bemerken, und alles Historische lässt sich
zur Aufstellung einer Beeinflussungs-Theorie scheinbar trefflich an. Im
3) Ueber die Bezeichnung des „gefesselten Sklaven“ als „heroischen Ge-
fangenen“ und über die Bedeutung dieser Gestalt und seiner Genossen am Julius-
denkmal vergl. Oscar Ollendorff, Michelangelo’s Gefangene im Louvre; die Studie
wird demnächst in der „Zeitschrift für bildende Kunst“ erscheinen.
3) Natürlich fehlt es auch nicht an Unterschieden. Der Gefangene steht,
Laokoon sitzt; doch ist gerade diese, dem Worte nach so wesentliche Unterschei-
dung nicht wesentlich für das Auge, weil sich nämlich das eigenthümliche Stel-
lungs-Motiv des Gefangenen dem Sitzen, das Sitzen des Laokoon aber dem Stehen
annähert. Bei der Haltung des Oberkörpers zeigt nur die Querstellung Ver-
wandtes, im Uebrigen sind die Bewegungen von Rumpf und Armen, hier durch
den Sprengversuch, dort durch den Schlangenbiss, bedingt und demgemäss von
einander abweichend. Das Niederzucken des Hauptes nach links fehlt mit seiner
ursächlichen Grundlage bei dem Gefangenen. Alle diese Unterschiede — und
welche immer man ihnen noch hinzufügen möchte — können die vorhandene
Analogie keineswegs aufheben.
4) Die körperliche Fesselung ist nur Symbol für irdische Fesseln, die
kein Seiler geflochten und kein Schmied gehämmert hat