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Repertorium für Kunstwissenschaft — 21.1898

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Ollendorff, Oscar: Der Laokoon und Michelangelo's gefesselter Sklave
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https://doi.org/10.11588/diglit.68268#0124

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Der Laokoon und Michelangelo’s gefesselter Sklave.
Von Oscar Ollendorff.
Es ist noch nicht darauf hingewiesen worden, dass zwischen der
Gestalt des Laokoon in der berühmten antiken Gruppe und dem sogenannten
„gefesselten Sklaven“ des Michelangelo eine bemerkens wer the Analogie
besteht.1) In beiden Fällen ist heroisches Leiden dargestellt. Laokoon,
in der Fülle der Kraft, hat den Widerstreit gegen die Schlangen noch
nicht völlig aufgegeben. Die aufgestemmten Beine — das rechte erhöht
auf den Steinplatten des Altars, das linke auf dem Erdboden — und ebenso
der linke Arm und der Oberkörper zeigen noch den Versuch, dem Ver-
derben zu entrinnen; der zurückgebeugte, aufwärts gewendete Kopf da-
gegen dient dem Kampfe nicht mehr, Bewegung und Ausdruck des Ge-
sichts sprechen nur vom Leiden. Wenn Laokoon mit dem Rumpfe nach
rechts hinstrebt und denselben zugleich quer wendet, so ist diese ganze
Art des Ausweichens, die nur die oberen Theile des Rumpfes von der
Bissstelle weiter entfernt, unwillkürlich und nicht eigentlich zweckmässig.
Das Senken der linken Schulter und das Niederzucken des Hauptes
sind zunächst auch Reflexbewegungen, die dem Bisse folgen. Hier-
bei wenden sich aber zugleich der Kopf und der Blick der Augen auf-
wärts, und dies ist ein getrennter, rein seelisch bedingter Vorgang. Der
Priester richtet sein Qualen-Antlitz zum Himmel. — Goethe sagt in seinem
Aufsatz über Laokoon: „Der höchste pathetische Ausdruck, den sie (die
bildende Kunst) darstellen kann, schwebt auf dem Uebergange eines Zu-
standes in den andern. Bleibt alsdann bei einem solchen Uebergange
noch die deutliche Spur vom vorhergehenden Zustande, so entsteht der
herrlichste Gegenstand für die bildende Kunst, wie es beim Laokoon der
Fall ist, wo Streben und Leiden in einem Augenblick vereinigt sind.“
b Photographien geben die Laokoongruppe stets von vorn, den gefesselten
Sklaven so, dass Beine und Rumpf im Profil, der Kopf in Dreiviertel-Wendung
erscheinen. Bei diesen verschiedenen Ansichten, jede von den Künstlern für die
Betrachtung ihres Werkes allein oder hauptsächlich gedacht, tritt die im Folgen-
den besprochene Analogie am schlagendsten hervor, nicht, wenn man etwa den
Laokoon von der Seite oder den Gefangenen en face ansieht und auf diese Weise
künstliche Einheit des Schau-Standpunktes herstellt.
 
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