Die Edda.
etgentliche Entfremdung geschah durch die lateinische
Bildung, die mit dem römischen Papst- und Kaiser-
gedanken nicht weniger als durch das paulinische Christen-
tum über uns kam und uns unserer eigenen Herkunft
abwendig machte. Sodaß nicht weniger als die Edda
das Nibelungenlied für uns erst wieder entdeckt werden
mußte.
Damit bleibt die Edda allerdings nur in der isländi-
schen Sprache überliefert und eine Übersetzung in unser
Hochdeutsch notwendiger als beim Nibelungenlied. Seit-
dem sich die Brüder Grimm mit ihrer schlichten Prosa
daran versuchten, hat es nicht an kühnen Anläufen
gefehlt; aber weder Simrock, der Allzugeschäftige, noch
Wilhelm Jordan, der Nibelungenverdeutscher, haben sie
zum Volksgut machen können, am wenigsten Hans von
Wolzogen in der Reclamschen Ausgabe, die nur eine
bläßliche Lesefrucht aus Bayreuth vorstellt. Auch für
die neueste Ausgabe der Heldenlieder (im Heimkehr-
Verlag, München), die sich bezeichnenderweise nach
ihrem Verfasser die Gorsleben-Edda nennt, fürchte ich,
daß sie nicht Volksgut werden kann. Wir waren in der
Lage, schon vor der Erscheinung des Werkes „Das Lied
von der Mühle Grote" abzudrucken; wer sich die Mühe
nimmt — und die Mühe lohnt sich — das Lied im 1. Heft
dieses Jahrgangs noch einmal nachzulesen, wird bald
die Eigentümlichkeit, leider aber auch den Mangel seiner
Übertragung erkennen. Gorsleben ist Dichter, nicht
Forscher; als Dichter nimmt er sich die Freiheit, je zwei
der Kurzzeilen des Originals in eine längere Aeile zu-
sammenzuziehen. Dadurch wird die Dichtung uns
zweifellos geläufiger; wie die Nibelungenstrophe ihrer
Ieit, so ist die Gorslebensche Langzeile dem Versgefühl
unserer Tage angenähert, um freilich — und das ist
doch wohl ein entscheidender Mangel — die Urform zu
verwischen. Die Kurzzeile ist nicht eine isländische Be-
sonderheit, sondern ein Urbestand der germanischen
Dichtung, so stark sie auch im skaldischen Geschmack der
Eddazeit beeinflußt scheint. Wer sie wegnimmt, ändert
die Form grundsätzlich, und es fragt sich, ob das noch
erlaubt werden kann?
Die Antwort wird durch die zweite Übertragung
gegeben, die gleichzeitig im Verlag Eugen Diederichs
in Jena zur Vollendung kam. Auch dort erschienen
zunächst nur die Heldenlieder; die Götterlieder sollten
im Herbst 1914 folgen, der Krieg verzögerte den zweiten
Band bis 1920, nun aber liegt das Werk vollständig vor,
und, wie es scheint, haben wir damit die endgültige
Form der Edda gewonnen, in der sie von nun ab ein
Bestandteil der deutschen Dichtung und Bildung bleiben
wird. Jm Gegensatz zu der Gorsleben-Edda haben sich
hier ein Dichter und ein Forscher vereint, die Edda
wirklich lebendig werden zu lassen: Felix Genzmer der
Dichter übertrug die Form, Andreas Heusler der
Forscher gab ihr die notwendige Einstellung. Beide
verdienen die höchste Anerkennung.
Für den Dichter soll ein Abdruck sprechen, den wir
nachfolgend geben; daß wir dazu wieder das Mühlen-
lied wählten, lag nahe, um einen Vergleich mit der
Gorslebenschen Ubertragung zu haben. Wir bitten den
Leser inständig, diesen Vergleich Aeile für Aeile selber
vorzunehmen; nur so wird er den eigentümlichen Wert
beider Übertragungen erkennen, nur so wird er den
Kurzzeiler schätzen lernen, nur so gewinnt er eine Vor-
stellung, wie diese Lieder in ihrer Aeit standen; denn
nur so ist das Heldische in ihnen selber Form geworden.
Daß diese Sprache, wie es im ersten Vergleich mit
Gorsleben scheint, kurzatmig sei, wird nur der meinen
können, der ihre kurzen Aeilen mit den Augen liest,
statt sie zu sprechen und zu hören. Alles daran ist auf
Hammer- und Schwertschlag gearbeitet, die Ohren, die
so hörten, waren ein anderes Leben gewohnt als das
unsere, das vom dumpfen Beharren in die lärmende
Unruhe unserer Straßen gezogen wird und jeder Festig-
keit entbehrt.
Wenn wir dem Abdruck des Mühlenliedes die Ein-
leitung und die Anmerkungen von Andreas Heusler
beifügen, geschieht das in der Absicht, von der Art der
Diederichschen Edda eine genaue Anschauung zu geben.
Gewiß dient es keiner Dichtung, im Abdruck derartig
mit Fußnoten gespickt zu sein, und die Art von Gors-
leben, die Einleitung selber als einen Bestandteil der
Dichtung zu geben, der sich nur durch die Prosa von
ihren eigentlichen Versen abhebt, wäre die richtigere —
wenn uns die Voraussetzungen der Edda geläufiger
wären. Da dem nicht so ist, werden wir die Fußnoten
wohl in Kauf nehmen müsfen, bis uns einmal — zur
Segnung unseres Volksgefühls — die Edda als Dichtung
allein möglich ist. Den Abdruck der ganzen Einleitung
glauben wir Andreas Heusler schuldig zu sein, damit
er nicht etwa nur als gelehrter Philologe dem Leser
vorgestellt wird. Hoffentlich ist die Aeit nicht allzu fern,
wo jedem gebildeten Deutfchen sein Name neben dem
von Felir Genzmer vertraut ist, als die Namen der
Männer, denen unser Volk endlich die allgemeine Kennt-
nis der Edda verdankt. W. Schäfer.
us dcr Einleitung zur Edda').
Von Andreas Heusler.
Bei dem Worte Edda denkt man an Urgermani-
sches, Heidnisches; an ein graues Altertum. Und doch sind
die Eddalieder erst im dreizehnten Jahrhundert eingesam-
melt worden auf dem christlichen Jsland; manches davon
ist nicht älter als die genannte Aeit, während sich anderes
bis ins neunte Jahrhundert zurückverliert.
Hält man aber deutsche Dichtung des Hochmittelalters
dagegen, so sieht man den großen Abstand! Das Ritter-
tum ist für die Edda, auch ihre jüngsten Schößlinge, kaum
vorhanden, und von dem Geiste der Kirche ist wenig
genug zu verspüren. Jnsofern ist diefe Dichtung alt-
germanisch.
Die Sprache der Edda ist die des alten Jsland und
Norwegen; manches vom Jnhalte ist nur aus den is-
ländischen Verhältnissen zu verstehen; als Hintergrund
schwebt unsern Dichtern meist eine nordische Küste vor
und das neblige Felsengebirg. Allein neben dem Ark-
tischen steht so vieles, was nur den Laut zu wechseln
brauchte, um englijche und deutsche Sitte auszusprechen;
die beliebtesten Helden sind Franken und Goten; die
Verse gehorchen verwandten Gesetzen wie die ältesten
*) Verlag Eugen Diederichs, Iena.
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etgentliche Entfremdung geschah durch die lateinische
Bildung, die mit dem römischen Papst- und Kaiser-
gedanken nicht weniger als durch das paulinische Christen-
tum über uns kam und uns unserer eigenen Herkunft
abwendig machte. Sodaß nicht weniger als die Edda
das Nibelungenlied für uns erst wieder entdeckt werden
mußte.
Damit bleibt die Edda allerdings nur in der isländi-
schen Sprache überliefert und eine Übersetzung in unser
Hochdeutsch notwendiger als beim Nibelungenlied. Seit-
dem sich die Brüder Grimm mit ihrer schlichten Prosa
daran versuchten, hat es nicht an kühnen Anläufen
gefehlt; aber weder Simrock, der Allzugeschäftige, noch
Wilhelm Jordan, der Nibelungenverdeutscher, haben sie
zum Volksgut machen können, am wenigsten Hans von
Wolzogen in der Reclamschen Ausgabe, die nur eine
bläßliche Lesefrucht aus Bayreuth vorstellt. Auch für
die neueste Ausgabe der Heldenlieder (im Heimkehr-
Verlag, München), die sich bezeichnenderweise nach
ihrem Verfasser die Gorsleben-Edda nennt, fürchte ich,
daß sie nicht Volksgut werden kann. Wir waren in der
Lage, schon vor der Erscheinung des Werkes „Das Lied
von der Mühle Grote" abzudrucken; wer sich die Mühe
nimmt — und die Mühe lohnt sich — das Lied im 1. Heft
dieses Jahrgangs noch einmal nachzulesen, wird bald
die Eigentümlichkeit, leider aber auch den Mangel seiner
Übertragung erkennen. Gorsleben ist Dichter, nicht
Forscher; als Dichter nimmt er sich die Freiheit, je zwei
der Kurzzeilen des Originals in eine längere Aeile zu-
sammenzuziehen. Dadurch wird die Dichtung uns
zweifellos geläufiger; wie die Nibelungenstrophe ihrer
Ieit, so ist die Gorslebensche Langzeile dem Versgefühl
unserer Tage angenähert, um freilich — und das ist
doch wohl ein entscheidender Mangel — die Urform zu
verwischen. Die Kurzzeile ist nicht eine isländische Be-
sonderheit, sondern ein Urbestand der germanischen
Dichtung, so stark sie auch im skaldischen Geschmack der
Eddazeit beeinflußt scheint. Wer sie wegnimmt, ändert
die Form grundsätzlich, und es fragt sich, ob das noch
erlaubt werden kann?
Die Antwort wird durch die zweite Übertragung
gegeben, die gleichzeitig im Verlag Eugen Diederichs
in Jena zur Vollendung kam. Auch dort erschienen
zunächst nur die Heldenlieder; die Götterlieder sollten
im Herbst 1914 folgen, der Krieg verzögerte den zweiten
Band bis 1920, nun aber liegt das Werk vollständig vor,
und, wie es scheint, haben wir damit die endgültige
Form der Edda gewonnen, in der sie von nun ab ein
Bestandteil der deutschen Dichtung und Bildung bleiben
wird. Jm Gegensatz zu der Gorsleben-Edda haben sich
hier ein Dichter und ein Forscher vereint, die Edda
wirklich lebendig werden zu lassen: Felix Genzmer der
Dichter übertrug die Form, Andreas Heusler der
Forscher gab ihr die notwendige Einstellung. Beide
verdienen die höchste Anerkennung.
Für den Dichter soll ein Abdruck sprechen, den wir
nachfolgend geben; daß wir dazu wieder das Mühlen-
lied wählten, lag nahe, um einen Vergleich mit der
Gorslebenschen Ubertragung zu haben. Wir bitten den
Leser inständig, diesen Vergleich Aeile für Aeile selber
vorzunehmen; nur so wird er den eigentümlichen Wert
beider Übertragungen erkennen, nur so wird er den
Kurzzeiler schätzen lernen, nur so gewinnt er eine Vor-
stellung, wie diese Lieder in ihrer Aeit standen; denn
nur so ist das Heldische in ihnen selber Form geworden.
Daß diese Sprache, wie es im ersten Vergleich mit
Gorsleben scheint, kurzatmig sei, wird nur der meinen
können, der ihre kurzen Aeilen mit den Augen liest,
statt sie zu sprechen und zu hören. Alles daran ist auf
Hammer- und Schwertschlag gearbeitet, die Ohren, die
so hörten, waren ein anderes Leben gewohnt als das
unsere, das vom dumpfen Beharren in die lärmende
Unruhe unserer Straßen gezogen wird und jeder Festig-
keit entbehrt.
Wenn wir dem Abdruck des Mühlenliedes die Ein-
leitung und die Anmerkungen von Andreas Heusler
beifügen, geschieht das in der Absicht, von der Art der
Diederichschen Edda eine genaue Anschauung zu geben.
Gewiß dient es keiner Dichtung, im Abdruck derartig
mit Fußnoten gespickt zu sein, und die Art von Gors-
leben, die Einleitung selber als einen Bestandteil der
Dichtung zu geben, der sich nur durch die Prosa von
ihren eigentlichen Versen abhebt, wäre die richtigere —
wenn uns die Voraussetzungen der Edda geläufiger
wären. Da dem nicht so ist, werden wir die Fußnoten
wohl in Kauf nehmen müsfen, bis uns einmal — zur
Segnung unseres Volksgefühls — die Edda als Dichtung
allein möglich ist. Den Abdruck der ganzen Einleitung
glauben wir Andreas Heusler schuldig zu sein, damit
er nicht etwa nur als gelehrter Philologe dem Leser
vorgestellt wird. Hoffentlich ist die Aeit nicht allzu fern,
wo jedem gebildeten Deutfchen sein Name neben dem
von Felir Genzmer vertraut ist, als die Namen der
Männer, denen unser Volk endlich die allgemeine Kennt-
nis der Edda verdankt. W. Schäfer.
us dcr Einleitung zur Edda').
Von Andreas Heusler.
Bei dem Worte Edda denkt man an Urgermani-
sches, Heidnisches; an ein graues Altertum. Und doch sind
die Eddalieder erst im dreizehnten Jahrhundert eingesam-
melt worden auf dem christlichen Jsland; manches davon
ist nicht älter als die genannte Aeit, während sich anderes
bis ins neunte Jahrhundert zurückverliert.
Hält man aber deutsche Dichtung des Hochmittelalters
dagegen, so sieht man den großen Abstand! Das Ritter-
tum ist für die Edda, auch ihre jüngsten Schößlinge, kaum
vorhanden, und von dem Geiste der Kirche ist wenig
genug zu verspüren. Jnsofern ist diefe Dichtung alt-
germanisch.
Die Sprache der Edda ist die des alten Jsland und
Norwegen; manches vom Jnhalte ist nur aus den is-
ländischen Verhältnissen zu verstehen; als Hintergrund
schwebt unsern Dichtern meist eine nordische Küste vor
und das neblige Felsengebirg. Allein neben dem Ark-
tischen steht so vieles, was nur den Laut zu wechseln
brauchte, um englijche und deutsche Sitte auszusprechen;
die beliebtesten Helden sind Franken und Goten; die
Verse gehorchen verwandten Gesetzen wie die ältesten
*) Verlag Eugen Diederichs, Iena.
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