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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 31.1921

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Heft 2
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Schäfer, Wilhelm: Giovanni Giacometti
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https://doi.org/10.11588/diglit.26485#0056

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Giovanni Giacometti. Der Einspänner (ISIS). (Abb. 2.)


so ist van Gogh entschieden der Gotiker gegen den
Klassiker; alles bei ibm geht ans die Dürersche Tendenz,
die Kunst aus der Natur herauszureißen, indessen für
Cszanne die Leinwand d. h. sein Bildaufbau das Be-
stimmende ist. Daher bei van Gogh die kühne Vorliebe
für die Lokalfarbe, der leidenschaftlich aus dem Detail
geraffte Strich, bei Cvzanne die teppichartige Bindung
der Farbe und bei aller Leidenschaft die überlegende
Ruhe seiner Pinselführung. Man liebt heute solche
Gegenüberstellungen nicht; da aber die ganze Entwick-
lung der abendländischen Kunst auf diesem Gegensatz
des Nordens gegen den Orient beruht, kann es der
Erkenntnis unserer Kunst und Zeit nur dienlich sein,
daß man diesen Gegensatz nicht durch die Vortäuschung
eines einheitlichen Willens verwischt. Alles, was ge-
schieht, geschieht im Kampf, also in der Auseinander-
setzung zweier Gewalten: diese Gewalten heißen in der
Kunst wie im Leben Sicherheit der Form in der Über-
lieferung, also der Gemeinschaft; Kühnheit der Form
in der Erneuerung, also der Persönlichkeit. Um es ganz
drastisch zu sagen: Cezanne ist römisch-katholische Kirche,
van Gogh ist Protestantismus. Daß der Stern van
Goghs heute sinkt, während der Cszannes steigt, ent-

spricht vollkommen dem gegenwärtigen Kräftezustand
der beiden Mächte: der Protestantismus, die Persönlich-
keit, hat den Krieg verloren gegen den Katholizismus,
die Gemeinschaft; das Germanentum, das in der neuen
Kunst Gotik (d. i. angebliche Barbarei) heißt gegen
das Romanentum. So besehen, ist der im Bergell
geborene Schweizer Maler mit dem italienischen Namen,
mit dem roten Bart und der Herkunft aus van Gogh
eine überaus interessante Figur.
Der „Mann mit Mütze" wurde 1907, das „Selbst-
bildnis mit Zahnschmerzen" 1919 gemalt; für ein sehendes
Auge ist damit etwas sehr Rühmliches gesagt: vor zwölf
Jahren zeichnete der Maler mit deni Pinsel, nach zwölf
Jahren malt er damit; damals baute sich die Figur
mit farbigen Strichen gegen den leeren Hintergrund
auf, heute geht sie mit hingestrichener Farbe in die Fläche
ein. Der Protestant ist katholisch, der Germane romanisch
geworden; aber es scheint nur so und zwar dem, der die
Kunst noch nicht als den höchsten Formwillen des Lebens
aus der Einheit des Willens versteht. Der gotische Künst-
ler ist gegen den klassischen der Neuschöpfer, der durch
seine Sinne im ewigen Quell der Kämst: der Natur Neu-
geborene, aber sein Ziel kann gar kein anderes sein, als


 
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