Schule der Weisheit.
Preises 1913 auch m deutschen ästhetisierenden Kreisen
gelesen wurde, der Nationaldichter und Weise Bengalens,
der in seinem Heimatland, wie sich Graf Keyserling aus-
drückte, „ein Volk gemacht hat und nun als Missionar
nach Europa kam" — Tagore war auf seiner Europareise
eine Woche lang Gast des Großherzogs von Hessen bzw.
der Schule der Weisheit. Der greise, vornehme Ab-
kömmling eines alten hochbegabten, schon seit Generatio-
nen reformerisch gesinnten, reich begüterten Brahmanen-
geschlechts, ein Freund der Kinder und in seinem Herzen
selbst noch ein Naturkind aus fremden tropischen Wäldern,
stand würdig und in der Demut seiner natürlichen Hoheit
mitten in dem Servilismus, der ihn umschwänzelte,
ließ geduldig neugierige Besucher auf sich hereinprallen
und sprach in öffentlichen Versammlungen das Übliche
zu einer westöstlichen Vereinigung der Geister. Die
„Schule der Weisheit" in Darmstadt soll künftig mit
Tagores Freiluftschule „Schanti Niketan" (Friedens-
heim) im Austausch der Schüler Zusammenarbeiten, eine
dritte Weisheitsschule soll demnächst von vr. Wilhelm
in China gegründet werden.
Eigenartig war die Gelegenheit, Tagore seine Ge-
dichte in der Ursprache vorlesen zu hören. Er sprach
selbst sein Erstaunen darüber aus, daß sie in Europa
verbreitet sind, obwohl die Übersetzung (er hat seine
Sachen selbst ins Englische übersetzt aus dem sie weiter-
übersetzt wurden) nur den abstrakten Inhalt, nicht aber
das andere Wesentlichste/die Melodie, wiedergeben kann.
In der Tat war das Anhören der monoton modulieren-
den, metallenen Stimme ein durchaus musikalischer
Genuß. Der bewegliche, wechselnde, dem Inhalt ganz
gemäße Rhythmus, der Wohllaut der zahlreichen vollen,
bald gedehnten, bald kürzeren Vokale und gonghaft
tönenden Nasale — sie wurden auf den Lippen selbst
Gesang, und der Unterschied zwischen dem Original und
der Übertragung erschien daraufhin gleich dem zwischen
papierenem Geschwätz und durchpulsten Schöpfungen.
Noch stärker war die Musik in den ebenfalls von Tagore
vorgelesenen altindischen Liedern: einem Tanzlied,
einem Regenlied und einem der heiligen Gesänge. Man
bedauerte — nicht, des Bengalischen unkundig zu sein,
sondern eine so zerschlissene, entsäftete Sprache sprechen
zu müssen, an der von der einstigen alt- und mittel-
hochdeutschen Herrlichkeit nicht mehr viel zu spüren ist.
Wir Greise der Menschheit! Otto Doderer.
Schlüters „Tat-Denken".
„Wir, die schaffenden Tatmitten des Alls,
gestalten den Stoff der Welt empor."
Willy Schlüter, heute der schlichte Name eines auch
noch leiblich unter uns Lebendigen; nach hundert Jahren
wird er in der leuchtenden Reihe der unsterblichen Namen
mitgenannt werden, die der Menschheit die dankbare
Erinnerung an ihr geistiges Wachstum, von Gipfel zu
Gipfel, bewahren. Denn dieser gewaltige „Selbstdenrer"
hat eine „neue Denkweise" in seinem Hauptwerke so
zwingend vorgetragen, daß jede andere dadurch über-
wunden erscheint; die hellsten Sterne der Vergangen-
heit sind in dieses Licht der Gegenwart und Zukunft
aufgenommen und als Vorläufer zur Erfüllung gebracht
worden. Zwar läßt Schlüter in treuen Rückblicken den
Stammbaum seines „Tat-Denkens" aus dem breiten
Gelände der bisherigen Philosophie ausdrücklich zu sich
emporwachsen; aber das zauberhafte Erblühen der
Krone dieses allmählichen Baumes in ihm bleibt dennoch,
als Durchbruch des Vollendeten, eine überwältigende
Genie-Überraschung, und erst diese Vollendung zwingt
und unterbaut nun alles weitere Philosophieren. Von
nun an kann die Geisteskultur nur noch tatdenkerisch fort-
geführt werden.
Freilich kann niemand diesen Meister in seiner letzten,
denkkünstlerischen Besonderheit erfahren, der nicht das
wundersame wahlfreie Geistes-Schweben über einem erst
noch zu schaffenden Werke in sich erfahren und sich im
Innersten als ein lebendiger Kraft-Keim gefühlt hat, ge-
spannt von der selbstgesetzten Aufgabe, entgegenstehendes
Stoffliche unter einer formenden Idee in sich hinein-
zureißen, zu sondern und in ein wohlgegliedertes Gebilde
emporzuführen. Wer aber dieses schöpferische Ver-
halten in sich aus Erfahrung kennt und der Feststellung
zuzustimmen vermag, daß das gestaltende Bewußtsein
seine „freien" Entscheidungen doch nur in der Wollens-
richtung einer überbewußten Geistigkeit trifft: der wird
mit tiefem Beifall den Gedanken Schlüters folgen, wenn
er diese überbewußte Geistigkeit als die All-Kraft deutet,
die durch den schaffenstätigen Menschen hindurch ihr ge-
heimnisvolles Streben nachForm in höchster Weise erfüllt.
In diesem Sinne, nämlich als bewußte Erfüller der
„All-Kunst", die die Welt durch fruchtbare Bindung ihrer
Gegensätze in ein von ihnen gespanntes und darum
lebendiges, das heißt ewig verjüngungsfähiges Gebilde
emporformt, sind ihm die Menschen aber auch dann
schon äußerste Wesen und Welterlöser, wenn sie dieses
Allgebilde nur schauend begreifen und von seiner un-
ermeßlich gegliederten Schönheit durchdrungen auch
deren Voraussetzung, die emporsteigernde Mischung des
Gegensätzlichen, anerkennen und lieben, und dieser
Mischung im eigenen Dasein mit Heller Tapferkeit, als
Nachschaffende des Allschöpfertums, pflegsam begegnen.
Jeder so begreifende und über sich selbst hinaus liebende
Jch-Geist ist eine vom urtätigen All „erkonnte" äußerste
„Tatmitte", in der es sich seiner selbst freut. Diese Freude
aber ist tausendfach, weil die Schönheit des All-Gebildes
sich in allen seinen Gliedern offenbart, und diese all-
heitliche Offenbarung jeglichem Einzelding und -wesen
schauend abzugewinnen, eben die tausendfach erfreuende
Tätigkeit des immer sich selber dabei zugleich hingebenden
und festhaltenden und also in freier„Könnens-Schwebe"
befindlichen Ich bedeutet. — Daß ein so erhelltes, leicht
und glückselig zwischen sich und der Welt schwebendes
Gotteskind notwendig eine heilsame Wirkung ausstrahlt,
hat es mit allem Leichten und Lichten gemeinsam: es
lebt nur noch zugunsten, garnicht mehr auf Kosten der
Mitlebenden, der einzigen Sehnsucht voll, auch den
anderen Geistern das Bewußtsein ihres Glückes auf-
zuschließen; denn es ist eben an sich selbst das endgültige
Glück, sich als Menschengeist das Welt-All zu einem
„Eigen-All" bewußt „ertätigen" zu können.
Für diese bewußte Ertätigung des lebendigen, kunst-
schönen Alls zum Jch-Besitz ist weder das Gefühl noch
1Z2
Preises 1913 auch m deutschen ästhetisierenden Kreisen
gelesen wurde, der Nationaldichter und Weise Bengalens,
der in seinem Heimatland, wie sich Graf Keyserling aus-
drückte, „ein Volk gemacht hat und nun als Missionar
nach Europa kam" — Tagore war auf seiner Europareise
eine Woche lang Gast des Großherzogs von Hessen bzw.
der Schule der Weisheit. Der greise, vornehme Ab-
kömmling eines alten hochbegabten, schon seit Generatio-
nen reformerisch gesinnten, reich begüterten Brahmanen-
geschlechts, ein Freund der Kinder und in seinem Herzen
selbst noch ein Naturkind aus fremden tropischen Wäldern,
stand würdig und in der Demut seiner natürlichen Hoheit
mitten in dem Servilismus, der ihn umschwänzelte,
ließ geduldig neugierige Besucher auf sich hereinprallen
und sprach in öffentlichen Versammlungen das Übliche
zu einer westöstlichen Vereinigung der Geister. Die
„Schule der Weisheit" in Darmstadt soll künftig mit
Tagores Freiluftschule „Schanti Niketan" (Friedens-
heim) im Austausch der Schüler Zusammenarbeiten, eine
dritte Weisheitsschule soll demnächst von vr. Wilhelm
in China gegründet werden.
Eigenartig war die Gelegenheit, Tagore seine Ge-
dichte in der Ursprache vorlesen zu hören. Er sprach
selbst sein Erstaunen darüber aus, daß sie in Europa
verbreitet sind, obwohl die Übersetzung (er hat seine
Sachen selbst ins Englische übersetzt aus dem sie weiter-
übersetzt wurden) nur den abstrakten Inhalt, nicht aber
das andere Wesentlichste/die Melodie, wiedergeben kann.
In der Tat war das Anhören der monoton modulieren-
den, metallenen Stimme ein durchaus musikalischer
Genuß. Der bewegliche, wechselnde, dem Inhalt ganz
gemäße Rhythmus, der Wohllaut der zahlreichen vollen,
bald gedehnten, bald kürzeren Vokale und gonghaft
tönenden Nasale — sie wurden auf den Lippen selbst
Gesang, und der Unterschied zwischen dem Original und
der Übertragung erschien daraufhin gleich dem zwischen
papierenem Geschwätz und durchpulsten Schöpfungen.
Noch stärker war die Musik in den ebenfalls von Tagore
vorgelesenen altindischen Liedern: einem Tanzlied,
einem Regenlied und einem der heiligen Gesänge. Man
bedauerte — nicht, des Bengalischen unkundig zu sein,
sondern eine so zerschlissene, entsäftete Sprache sprechen
zu müssen, an der von der einstigen alt- und mittel-
hochdeutschen Herrlichkeit nicht mehr viel zu spüren ist.
Wir Greise der Menschheit! Otto Doderer.
Schlüters „Tat-Denken".
„Wir, die schaffenden Tatmitten des Alls,
gestalten den Stoff der Welt empor."
Willy Schlüter, heute der schlichte Name eines auch
noch leiblich unter uns Lebendigen; nach hundert Jahren
wird er in der leuchtenden Reihe der unsterblichen Namen
mitgenannt werden, die der Menschheit die dankbare
Erinnerung an ihr geistiges Wachstum, von Gipfel zu
Gipfel, bewahren. Denn dieser gewaltige „Selbstdenrer"
hat eine „neue Denkweise" in seinem Hauptwerke so
zwingend vorgetragen, daß jede andere dadurch über-
wunden erscheint; die hellsten Sterne der Vergangen-
heit sind in dieses Licht der Gegenwart und Zukunft
aufgenommen und als Vorläufer zur Erfüllung gebracht
worden. Zwar läßt Schlüter in treuen Rückblicken den
Stammbaum seines „Tat-Denkens" aus dem breiten
Gelände der bisherigen Philosophie ausdrücklich zu sich
emporwachsen; aber das zauberhafte Erblühen der
Krone dieses allmählichen Baumes in ihm bleibt dennoch,
als Durchbruch des Vollendeten, eine überwältigende
Genie-Überraschung, und erst diese Vollendung zwingt
und unterbaut nun alles weitere Philosophieren. Von
nun an kann die Geisteskultur nur noch tatdenkerisch fort-
geführt werden.
Freilich kann niemand diesen Meister in seiner letzten,
denkkünstlerischen Besonderheit erfahren, der nicht das
wundersame wahlfreie Geistes-Schweben über einem erst
noch zu schaffenden Werke in sich erfahren und sich im
Innersten als ein lebendiger Kraft-Keim gefühlt hat, ge-
spannt von der selbstgesetzten Aufgabe, entgegenstehendes
Stoffliche unter einer formenden Idee in sich hinein-
zureißen, zu sondern und in ein wohlgegliedertes Gebilde
emporzuführen. Wer aber dieses schöpferische Ver-
halten in sich aus Erfahrung kennt und der Feststellung
zuzustimmen vermag, daß das gestaltende Bewußtsein
seine „freien" Entscheidungen doch nur in der Wollens-
richtung einer überbewußten Geistigkeit trifft: der wird
mit tiefem Beifall den Gedanken Schlüters folgen, wenn
er diese überbewußte Geistigkeit als die All-Kraft deutet,
die durch den schaffenstätigen Menschen hindurch ihr ge-
heimnisvolles Streben nachForm in höchster Weise erfüllt.
In diesem Sinne, nämlich als bewußte Erfüller der
„All-Kunst", die die Welt durch fruchtbare Bindung ihrer
Gegensätze in ein von ihnen gespanntes und darum
lebendiges, das heißt ewig verjüngungsfähiges Gebilde
emporformt, sind ihm die Menschen aber auch dann
schon äußerste Wesen und Welterlöser, wenn sie dieses
Allgebilde nur schauend begreifen und von seiner un-
ermeßlich gegliederten Schönheit durchdrungen auch
deren Voraussetzung, die emporsteigernde Mischung des
Gegensätzlichen, anerkennen und lieben, und dieser
Mischung im eigenen Dasein mit Heller Tapferkeit, als
Nachschaffende des Allschöpfertums, pflegsam begegnen.
Jeder so begreifende und über sich selbst hinaus liebende
Jch-Geist ist eine vom urtätigen All „erkonnte" äußerste
„Tatmitte", in der es sich seiner selbst freut. Diese Freude
aber ist tausendfach, weil die Schönheit des All-Gebildes
sich in allen seinen Gliedern offenbart, und diese all-
heitliche Offenbarung jeglichem Einzelding und -wesen
schauend abzugewinnen, eben die tausendfach erfreuende
Tätigkeit des immer sich selber dabei zugleich hingebenden
und festhaltenden und also in freier„Könnens-Schwebe"
befindlichen Ich bedeutet. — Daß ein so erhelltes, leicht
und glückselig zwischen sich und der Welt schwebendes
Gotteskind notwendig eine heilsame Wirkung ausstrahlt,
hat es mit allem Leichten und Lichten gemeinsam: es
lebt nur noch zugunsten, garnicht mehr auf Kosten der
Mitlebenden, der einzigen Sehnsucht voll, auch den
anderen Geistern das Bewußtsein ihres Glückes auf-
zuschließen; denn es ist eben an sich selbst das endgültige
Glück, sich als Menschengeist das Welt-All zu einem
„Eigen-All" bewußt „ertätigen" zu können.
Für diese bewußte Ertätigung des lebendigen, kunst-
schönen Alls zum Jch-Besitz ist weder das Gefühl noch
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